ARNO SCHMIDT
ANNE

Anne hat braunes Haar
Sie ist immer noch schön
Mitte vierzig, was weiß ich
Aber wenn man sie sieht
Sehr gepflegt, kaum geschminkt
Wirkt sie höchstens wie dreißig
Anne ist so der Typ
Immer straff, immer taff
Anne kriegt so schnell keiner klein
Sie ist stark und sie steht
Wie man sagt, ihren Mann
Jedenfalls scheint es so zu sein

Lebt seit Jahren allein
Jedenfalls ohne Mann
Seit sie sich damals scheiden ließ
Ab und zu nahm sie dann
Einen Kerl mit nach Haus
Wenn sich's gar nicht vermeiden ließ
Denn sie hat ein Problem
Sie ist einfach zu schön
Und die Männer, die trau'n sich nicht
Aber die, die sich trau'n
Das hat Anne gelernt
Das sind Profis, die taugen nichts

Anne wollte ein Kind
Oder besser zwei, drei
Doch das Leben, das war nicht fair
Nach dem zweiten Abort
Wurde Anne sehr krank
Und danach ging dann gar nichts mehr
Anne weinte nicht lang
Sondern stritt mit dem Amt
Und sie hat es erzwungen
Bald darauf holte sie
Aus dem Heim sich ein Kind
Einen ganz süßen Jungen

Und sie wusste, das ist
Heut der glücklichste Tag
In ihrem Leben
Da hat sie sich geschwor'n
Diesem Kind, ihrem Sohn
Alles zu geben
Das ist acht Jahre her
Und das Kind ist jetzt neun
Glaubt, dass Anne die Mama ist
Es ist fröhlich und frech
Aber Anne weiß doch
Daß das Kind den Papa vermisst

Immer noch kommt ihr Sohn
jede Nacht in ihr Bett
Und sie hofft, daß die heile Welt
Die sie mit ihm erlebt
Und die Anne genießt
Noch ne ganz lange Weile hält
Und natürlich manchmal
Fragt er nach dem Papa
Immer öfter im letzten Jahr
Anne hat Phantasie
Und sie denkt sich was aus
Wie's mit Papa und damals war

Dann erzählt sie dem Kind
Die Geschichten von ihm
Dem Papa, den sie dafür erfunden hat
Und der ähnelt dem Prinz
Den sie immer gesucht
Ihrem Prinz, den sie niemals gefunden hat