GERHARD GUNDERMANN
Interview (Schweriner Volkszeitung 24.02.1996)
DEINE LIEDER SCHEINEN HÄRTER
Deine Lieder scheinen härter, krasser geworden zu sein.
Ich bin nicht in der Lage, meinen eigenen Kram zu analysieren. Ich habe hingeschrieben, was ich dachte...
Es klingt, als ob Dir Verluste stärker bewußt werden als vorher.
Das ist richtig. Sagen wir so: Ich habe im April in meine Akten eingesehen, in meine Täterakten, und eine ganze Reihe von
Dingen wußte ich nicht mehr. So. Viele haben gesagt: Wie kannst du das vergessen; und: Erinnere dich; und: Wie war denn
das, und da habe ich ein halbes Jahr richtig nachgedacht. Nicht nur darüber, sondern überhaupt, wie es war. Es kann natür-
lich sein, daß dieses "Wie war denn das" auf die Platte abgefärbt ist. Die guckt ziemlich nach rückwärts, und da ich so viele
Gewinne nicht konstatieren kann, habe ich eben die Verluste aufgesagt.
Du machst keinen Hehl aus dem Traum vom "Eisenland" und setzt dich damit sicherlich auch DDR-Nostalgie-Vorwürfen aus.
Beobachtest du das auch um dich herum, oder hast du das Gefühl, es geht nur dir so?
Es geht auch anderen so. Wenn ich mit denselben Kollegen auf Arbeit fahre vor einem halben Jahr, als ein PDS-Bürgermeis-
ter gewählt wurde, hieß es: "Ja, haben die denn noch gar nischt gelernt, haben sie's noch nicht begriffen?" Wenn wir jetzt
runterfahren, wo die Entlassungen anstehen, ist der Tenor: "Wegen mir könn'se die Mauer wieder bauen, die können auch
mein Auto zurückkriegen." Wenn man jahrelang mit denselben Leuten in demselben Auto dieselbe Strecke fährt und die
Gespräche hört, merkt man die Entwicklung, die stattgefunden hat. Da haben sie gespürt, daß wir uns doch offensichtlich
zu schnell unsere Souveränität haben abkaufen lassen.
Gab es denn vorher Euphorie unter den Arbeitskollegen?
Weißt du, wenn du dein Leben lang Autos fährst, wo du mehr drunterliegst als drinsitzt, dann freust du dich, wenn du endlich
eins hast, wo du immer drinsitzen kannst und gar nicht mehr drunterliegen mußt. Das war ja auch klar. Die ersten Jahre war
es doch so: Die neue Ordnung warf ihre positiven Schatten voraus, die alte hinterließ ihre noch. Mieten, Strom, Wasser, das
wurde erst allmählich und wird immer noch angehoben. Man bekam aber schon mehr Geld und auch anderes, härteres. Für
eine kurze Zeit konnte man sich also an den Sahnehäubchen beider Systeme gütlich tun, ohne an dem Boden kratzen zu
müssen. Bei uns ist ja alles viel später passiert: Ein Tagebau wird nicht so schnell zugemacht wie eine Weberei, das dauert
viel länger wegen der Nachbereitung. Jetzt geht es bei uns erst richtig los. Was vielen DDR-Bürgern um 1992 aufgegangen
ist, geht den Kohlekumpels jetzt auf drei Jahre später.
Betrifft Dich die Entlassung auch?
Ja, klar. Wenn ein Tagebau zugemacht wird... Es ist ja keine Böswilligkeit, sondern einfach so, daß wir in der DDR aus
Braunkohle alles gemacht haben: Gas, Kohlen, Energie, Chemie, Koks... Wir machen im Prinzip nur noch ein paar Briketts,
alles andere ist weggefallen. Der Bedarf sinkt, und du kannst nicht sinnlos Braunkohle produzieren, wenn sie keiner haben
will, also wird der Tagebau auch zurückgefahren. Unser Bau ist einer von denen, die zugemacht werden, und das trifft alle,
die da arbeiten.
Und dann?
Weiß ich nicht. Es gibt Umschulungsmaßnahmen. Aber was dort im Angebot ist, hat mich erstmal nicht interessiert. Ers-
tens hab ich keine Lust, Sanitärinstallateur zu werden oder Baumaschinist. Zweitens hat es keinen Sinn: Bei den Bauma-
schinisten gibt es mittlerweile auch mehr Leute, die arbeitslos zu Hause sitzen als solche, die auf dem Bau arbeiten...
Wenn ich jetzt das zweite Mal neu beginnen kann, muß, will und darf, dann will ich einen Beruf lernen, wo ich auch ein biß-
chen vorausschaue. Ich habe Tagebaumaschinist gelernt, als von Ökologie noch nicht die Rede war. Wir sollten im Winter
allen den Arsch warmmachen, und wenn wir es geschafft hatten, waren wir die Guten. Plötzlich waren wir nicht mehr die
Guten für dieselben Taten. Als ich Anfang der 70er Jahre im Tagebau angefangen habe, war Ökologie noch kein Thema; da
dachte man auch immer, wenn man die leeren Batterien in den Müll schmeißt, sind sie ordentlich aufgehoben. Eine Frage
des Kenntnisstandes Ja, und jetzt würde ich gern einen Beruf erlernen, wo ich eben nicht wieder nach zwanzig Jahren verant-
worten muß, was ich für einen Mist gemacht habe. Ich würde zum Beispiel gern ein Zweiradmechaniker werden.
Weil man da nicht viel falsch machen kann?
Ein Fahrrad ist eine ideale Maschine. Es kommt ohne Fremdenergie aus, du setzt menschliche Energie um. Die Maschinen
sind inzwischen so kompliziert, daß du als Laie nicht mehr viel daran drehen kannst. Das ist ja alles hochsensibles Zeug,
das sich auch noch weiterentwickeln wird, und irgendwann wirst du mit Kraft deiner Beine auch ziemlich locker, ziemlich
weit, ziemlich schnell fahren können. Da würde ich gern mittun. An so einer Maschine kann man eigentlich nichts falsch ma-
chen, außer daß man vielleicht ein falsches Metall verwendet.
Dich verbindet viel mit Hoyerswerda?
Ich bin hingezogen, da war ich zwölf. Weggezogen bin ich mit dreißig. Jetzt wohne ich etwa zehn Kilometer weiter, in so ei-
ner Bergarbeitersiedlung. In Hoyerswerda habe ich also fast 20 Jahre gewohnt. Ich habe mehrere Plattenwohnungen durch
vom Kinderzimmer in der Wohnung meiner Mutter über die Einraumwohnung bis zur Familienwohnung, also alles, was der
Plattenbau so zu bieten hat. Seit 1989 haben sich dort wesentliche Veränderungen vollzogen. Es ist eine Stadt voller Leute,
davon 90 Prozent zugezogene - ursprünglich wohnten dort 5500 Leute, zwischendurch waren es knapp 80.000, jetzt sind es
noch 50.000. Es sind also richtig viele weggezogen. Es ist eine Stadt voller Leute, die gerufen wurden, um Kohle zu fördern,
und eine Stadt voller Leute, die jetzt nicht mehr gebraucht werden.
"Wesentliche Veränderungen" sehen zum Beispiel in Berlin chaotisch und baustellenhaft aus.
Das ist in Hoyerswerda natürlich auch, aber... Das, was ich damals empfunden habe, wenn ich nach dem Konzert heimkam,
empfinde ich jetzt, wenn ich nach S. einfahre. Ich bin in Hoyerswerda eigentlich nicht mehr zu Hause. Viele Freunde, mit denen man zusammen was getan hat vor zehn, fünfzehn Jahren, sind nicht mehr da, sie sind weg und machen woanders
irgend etwas. Es sind immer so Restbestände, "Restposten" übrig... wobei das auch wieder die sind, die heute immer noch
was machen. Dieselben, die dort vor zwanzig Jahren versucht haben, in einem zweiten Arbeitsverhältnis Kultur auf die Beine
zu bringen, machen das heute auch wieder.
Hast Du nie überlegt, nur Musik zu machen?
Nee.
Warum nicht?
Na, ich kann ja keine Musik machen.
Klingt ein bißchen kokett.
Das ist nicht kokett. Das ist eine realistische Einschätzung. Wenn es eine musikalische Wirksamkeit gibt, dann wird sie
durch die Band realisiert. Es gibt tausend Gründe dafür, warum ich das nicht machen will. Einer ist eben, daß ich mein Brot
gern irgendwie anders verdienen will als mit Kunst.
Barbara Thalheim hat ihr letztes Konzert gegeben, die Wegner wird so dargestellt, als hätte sie sich kaum verändert. Du
wiederum scheinst dich mehr in Richtung Rock zu bewegen.
Ich wollte das schon vor 15 Jahren machen, und wir haben es auch mit der Brigade Feuerstein gemacht. Die Musiker waren
Amateure, aber das Prinzip war schon das gleiche. Ich bin keiner, der sich groß entwickelt hat. Ich trete seit etwa zehn Jah-
ren allein auf, und seitdem haben sich meine Vorstellungen von dem, was ich realisieren will, nicht sonderlich gewandelt. Ich
glaube, ich bin jemand, der sich nicht entwickelt. Es würde mir schon reichen, wenn ich jemanden wie Bettina Wegner mein
ganzes Leben lang zur Verfügung hätte. Weil: Die Welt ringsherum entwickelt sich ja, aber das Fernglas, in dem ich die
Welt angucke, entwickelt sich auch nicht, und du siehst trotzdem immer neue Sachen dadurch. Wir sind auch nichts ande-
res als Ferngläser, die bestimmte Ausschnitte vergrößern und sichtbar machen, da muß man sich nicht selber entwickeln.
Glaube ich jedenfalls. Und wenn die Lieder jetzt härter klingen, ja, dann ist die Welt härter geworden. Die Welt hat sich ver-
ändert.
"Hier" ist ein wichtiges Wort in Deinen Texten. Wie ist die Reaktion, wenn Ihr im Westen spielt?
Ich glaube, daß wir drüben, auf der anderen Seite der Elbe, so viel nicht spielen werden. Ich denke schon, daß es Leute in
der Bundesrepublik gibt, die damit was anfangen können, aber es funktionieren auch bestimmte Mechanismen: Du mußt
erstmal wissen, daß du mit jemandem was anfangen kannst, ehe du 20 Mark für ein Konzert bezahlst. Da wirst du nicht so
reingeschoben oder reinpromotet. Das mußt du dir erarbeiten, das dauert Jahre. Aber ich denke, wir werden auch immer eine
Band für hier bleiben, weil sich viel aus dem Gefühl von hier, aus dem Leben hier speist. Es gibt ja auch Typen, die nur im
Ruhrgebiet spielen und sonst nirgends, und wir spielen eben nur hier und sonst fast nirgends. Du mußt Veranstalter kennen,
du mußt ein Vokabular sprechen, was auch alle verstehen, du brauchst ja drüben wirklich Dolmetscher. Das ist so, immer
noch; es ist ein Irrtum zu denken, daß man sich versteht, wenn man miteinander deutsch spricht.
Wie sehen solche Mißverständnisse zum Beispiel aus?
Da gibt es sicher vieles. Ich will diese Ost-West-Nummer auch nicht hochpushen, die geht mir eigentlich auf den Keks. Es
gibt im Westen viele, die ich dort kennengelernt hab und auf die ich neugierig war; und ich war glücklich, daß ich sie kennen-
gelernt habe, und es gibt auch Leute, wo ich dann nicht so glücklich war. Aber das gibt es im Osten auch. Der Anteil von
Leuten, mit denen man was anfangen kann, ist sicher überall gleich. Es gibt hier auch Mißverständnisse. Da kam mal eine
Tante von der Zeitung und fragte mich: Was machen Sie denn für Lieder? Ich sagte, ich hoffe, daß ich Volkslieder mache, da
sagt die: Ach so, zum Mitklatschen und so. Es ist egal, auf welcher Seite die Mißverständnisse stattfinden. Wir sind eine
Randgruppen-Combo und werden es sicherlich auch bleiben, und wenn wir keine mehr sein sollten, müssen wir uns wahr-
scheinlich fragen, was wir falsch gemacht haben.
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