HERBERT GRÖNEMEYER
Interview von MAX FELLMANN und ADRIANO SACK (Die Woche, 2000)
WOCHE-Gespräch mit Herbert Grönemeyer über seine verstorbene Frau Anna, die neue Sprache der
Popmusik, die Vergeblichkeit eines NPD-Verbots und das Versagen der Grünen...


Sie veröffentlichen eine Doppel-DVD, die zugleich eine CD ist, enthalten sind Stücke in Karaoke- Versionen, der Betrachter
kann sich die Kameraeinstellungen selbst aussuchen und vieles mehr. Warum?


Das ist ein Versuch, mehr zu bieten. Irgendwann werden reine Musik-CDs nicht mehr standhalten können. Dann wird man
sagen: Wenn auf einer CD nur Musik ist, möchte ich die für 16 Mark haben, für 30 Mark will ich mehr. Herkömmliche Me-
dien müssen ja auch mit dem Internet konkurrieren.

Haben Sie sich schon mal einen Song aus dem Internet heruntergeladen?

Nein, aber ich finde das völlig okay, solange niemand daran verdient. Mein Sohn brennt auch CDs. Als Jugendlicher kannst
du dir nicht für je 35 Mark fünf Platten kaufen, und dann sind nur drei gute Stücke auf der Platte. Das Internet fordert die
Möglichkeit, sich ein breiteres Spektrum anzueignen. Man kann einfach mal klicken und hören, was macht die Band?

Aber überläßt das Internet den Menschen nicht zu sehr sich selbst?

Ich glaube, da unterschätzt man den heutigen Zugang, die Handhabung von Computern. Das sehe ich bei meinem Sohn, der
ist 13, der geht damit so um, wie wir früher Karl May gelesen haben. Eine völlige Selbstverständlichkeit. Ich denke da an
diese Hysterie, als Video rauskam. Da haben die Leute gesagt, kein Mensch geht mehr ins Kino. Ich behaupte aber, der
Mensch will - deswegen heißt er ja so - Menschen treffen, er will raus. Und was ist passiert? 15 Jahre später boomt das
Kino! Alle Leute wollen raus, wollen nach draußen, wollen andere Leute sehen. Ich glaube nicht, daß das Internet dazu führt,
daß der Mensch vereinsamt.

Sie haben mal gesagt, daß die Bühne für Sie der Raum ist, in dem Sie sich am besten aufgehoben fühlen. Sie treten live
auf, aber eine neue Platte ist nicht in Sicht. Wie sieht es aus mit neuen Projekten? Schreiben Sie Lieder?


Das ist sehr mühsam, seit meine Frau Anna nicht mehr da ist. Ihr Tod war eine traumatische Zäsur in meinem Leben, ich
komponiere Musik, aber ich habe seitdem noch kein Wort geschrieben. Meine Tochter sagt immer: "Schreib mal was Lusti-
ges, komm auf die Füße!" Aber ich habe noch keine Vision, wie ich mit Annas Tod umgehen soll.

Dennoch: Konzerte zu geben, diese DVD zu machen, das bedeutet doch auch Beschäftigung mit der eigenen Vergangen-
heit.


Ja, aber damit kann ich auch eine gewisse Zeit in meinem Leben abschließen. Das wirft mich zwar immer wieder genau in
diese Stimmungen zurück, aber es ist auch eine Form des Trauerns. Ich weiß noch: Das Lied "Schmetterlinge im Eis" habe
ich morgens um drei geschrieben, das ging ganz schnell. Am nächsten Tag habe ich es Anna vorgespielt, und sie sagte:
"Was hast du denn da geschrieben, was soll das denn sein"?

Und jetzt fehlt Ihnen Ihre Frau als kritische Instanz?

Natürlich. Das Korrektiv fehlt, die Herausforderung. Ich habe ja auch geschrieben, um ihr und mir etwas zu beweisen. Ais wir
uns kennenlernten, fand sie meine Musik ziemlich eigentümlich. Das waren zwei Welten: Anna kam aus Hamburg mit seiner
Underground-Szene. Ich kam aus dem Ruhrgebiet, wir waren auch Untergrund, aber nicht so hip. Ich habe ihr meine erste
Platte vorgespielt, da war sie zu Recht ziemlich verzweifelt. Sie hat mir mit ihrer Kritik natürlich auch geholfen, mich weiter-
zuentwickeln. Zu "Bleibt alles anders" hat sie gesagt: "Das ist die erste gute Platte, die du gemacht hast."

Wie fühlt es sich an, wenn Sie mit eigentlich so privaten Liedern vor einem Riesenpublikum stehen?

Meine Lieder sind trotz alter Privatheit stilisiert. Meine Entscheidungen waren nicht nur davon abhängig, was Anna gefiel.
Aber sie war auch Künstlerin und sehr anspruchsvoll, also habe ich versucht, bei ihr sozusagen durch die Jury zu kommen.

Könnte es eine Art Katharsis sein, jetzt diese Erfahrungen in Liedern zu verarbeiten?

Ja, sicherlich. Das versuche ich ja auch, wenn ich wieder auf die Bühne gehe. Meine Kinder mögen das, denn es zeigt, es
gibt da ein Leben. Ebenso mein Label Grönland oder das Projekt "Pop 2000". Da hing ich nicht so sehr persönlich drin, son-
dern konnte mehr organisieren.

Während der Arbeit an "Pop 2000" haben Sie sich viel mit der Geschichte der deutschen Popmusik beschäftigt. Einmal
sagten Sie, in den 80er Jahren war die deutsche Popmusik verkrampft. Hat sich das geändert?


Ja, absolut. Heute ist die deutsche Musikszene breiter geworden, selbstbewußter und vielschichtiger. In den Achtzigern gab
es nur sieben Namen, und da stürzten sich alle drauf. Ich war ja einer davon.

Nur sieben Namen - das klingt doch nicht nach Problemen.

Doch, das Desaster war dieses Wackersdorf- Konzert. Eigentlich eine Chance, zwei Tage lang deutsche Rockmusik zu ma-
chen. Aber das ist hinter den Kulissen einfach tragisch gescheitert. Eine Katastrophe. Und da ist diese Szene im Grunde
auch auseinandergebrochen.

Woran ist das gescheitert?

Es ging darum, Geld zu sammeln, um Autonome zu finanzieren. Aber es endete hinter den Kulissen mit einer Schlamm-
schlacht, wer ist der Größte, wer spielt am schnellsten. Und dann haben die Veranstalter das Geld abgegriffen. Es endete mit 140 000 Besuchern, 50000 Mark sind übrig geblieben, und die mußten noch versteuert werden. Dann hat eine Catering-
Frau das Geld in Plastiktuten vom Gelände schaffen wollen, hat sich einen Notarzt besorgt und sich auf die Bahre gelegt, mit
den beiden Säcken. Dann ist ein Typ mit Pistole gekommen und hat gesagt: "Gib das Geld raus!" Das war alles sinnlos, da
ging es nur drunter und drüber.

Was hat sich seitdem geändert?

Heute gibt es die Hip-Hop- und Rap-Szene, eine Indie-Szene, die Elektronik-Szene und die Rock-und- Pop-Szene. Und da
entwickelt sich auch eine neue Sprache. Die machen ihre eigenen Labels, weil sie einfach die bisherige Sprache des Musik-
geschäfts nicht interessiert. Ich sehe das bei meinem Neffen, der ist gerade in die Charts gegangen mit seiner Hip-Hop-Band
"Creutzfeld-Jakob". Der ist 21 und macht Musik in der Garage meines Bruders.

Und wie bewerten Sie die Sprache, die derzeit im amerikanischen HipHop entsteht? In den USA häufen sich die Stimmen,
die sagen, Musik wie die des Rappers Eminem treibe Jugendliche in den Amoklauf.


Ich glaube nicht, daß das von der Musik kommt, da wurde ich eher an Filme denken. Über einen Film wie "Happiness", in
dem ein Vater die Freunde seines Sohnes mißbraucht, kann man sich streiten. Den finde ich grenzwertig.

Können Musik und Filme auch Gründe sein für die erhöhte Gewaltbereitschaft in Deutschland, für Rassismus und Rechts-
radikalismus?


Die Skinhead-Szene wird sicher auch durch Musik zusätzlich hochgepowert. Aber der Rechtsradikalismus im deutschen Os-
ten hat in erster Linie mit der unglaublichen Arroganz des Westens zu tun, mit dem Gefühl des Alleingelassenseins. Und mit
der Überheblichkeit des Westens, der die Menschen im Osten nicht respektiert und sich auch nicht mit deren Geschichte
auseinandersetzen will. Ich finanziere jetzt ein Jugendheim in Leipzig, das sich um rechtsradikale Jugendliche kümmert. Da
kriegt man diese Sprachlosigkeit mit: Die Eltern können nichts erzählen, die haben selber keine Ahnung mehr, was los ist.
Die Jugendlichen haben keinen Ansprechpartner. Und der Westen sagt: Alles, was sie gemacht haben in der Vergangenheit,
war Mull. Als ich dieses Jugendheim ins Leben rufen wollte, in Grünau, wo 30 000 Leute leben, da haben mich die Zustän-
digen in Leipzig angeguckt, als hätte ich sie nicht alle. Weil ich privat ein Jugendheim finanzieren will, das sich dann auch
noch um Rechtsradikale kümmert.

Warum diese Reaktionen?

Es hat sich keiner bei der Wiedervereinigung Gedanken gemacht, Kohl hat alles einfach zusammengehauen. Auch die Grü-
nen sind in dieser Frage kläglich gescheitert. Dabei sind Wiedervereinigung und Rechtsradikalismus in meinen Augen die
Grünen-Themen überhaupt, nicht die Öko-Steuer oder irgendwelche Tempolimits. Daß die Grünen da nicht eingestiegen
sind, ist ein Drama.

Sie haben ein Konzert am Brandenburger Tor gegeben unter dem Motto "Kein Rassismus- Gegenwehr". War das nicht ur-
sprünglich eine Aktion mehrerer Musiker? Was ist aus "Rock gegen Rechts" geworden?


Ich hatte mit dem anderen Konzert nichts zu tun. Mein Konzert hatte ich schon viel länger vorher geplant, warum das andere
gescheitert ist, weiß ich nicht.

Was können Sie mit so einem Konzert erreichen?

Ich kann über meine Musik nur versuchen, Leute zu motivieren und ihnen Mut zu machen. Ich sehe mich da als Trommler.
Nicht mehr und nicht weniger. Aber ich bin kein Missionar. Und wenn ich in das Jugendheim in Leipzig komme, finden mich
dort die Jugendlichen völlig bescheuert.

Immerhin kennen die Sie.

Ja, aber die sagen: "Ob der es finanziert, ist uns scheißegal, den können wir eh nicht leiden." Ich kann nur versuchen, Stel-
lung zu beziehen, und hoffen, daß es hilft.

Und was ist mit dem Rechtsradikalisinus im Westen Deutschlands?

Das alte Problem: Wenn wir das Gefühl haben, daß es uns nicht gut geht, dann einigen wir uns auf unseren stumpfsten Nen-
ner. Die Änderung des Asylrechts und die Lüge, die Wiedervereinigung koste quasi nichts, hat allen Dumpfbacken die Recht-
fertigung gegeben, ihre niedersten Gesinnungen und ihren Frust auszuleben. Das hat sich ja schon vor der Wiedervereini-
gung angebahnt, als Helmut Kohl seine Gorbatschow-Goebbels- Vergleiche machte oder sich an die Bitburg-Gräber stellte.
Lauter kleine Signale, die zu einer neuen Legitimation von Rechtsaußen geführt haben. Kohl hat das ganz gezielt gemacht.

Ist durch die SPD-Regierung etwas besser geworden?

Die jetzige Regierung ist nichts anderes als eine Durchgangs-Regierung. Ich behaupte, es hat noch gar keine Demokratie
gegeben in Deutschland. In meinen Augen ist dieses Land ein ganz junges Land, das gerade anfängt, die ersten Schritte der
Demokratie zu machen. Jetzt lauten die Fragen: Wollen wir zusammengehören? Sind wir intellektuell in der Lage, für 80 Mil-
lionen Menschen dieses Land zu organisieren, haben wir das geistige Potential? Es ist ja noch nicht mal erwiesen: Gehören
die zwei Teile von Deutschland überhaupt zusammen? Was ist in 50 Jahren? Ist es dann wie in Jugoslawien, hauen wir uns
alle auf die Mütze? Die wahren Demokraten kommen erst noch.

Was ist bis dahin zu tun?

Warum hat man nicht direkt nach der Wiedervereinigung Fernsehsendungen gemacht, wo Leute aus dem Westen und aus
dem Osten zusammensitzen und reden? Wie eine Kaffeesitzung, einfach mal erzahlen: Was betrifft euch? Wie tickt ihr?
Aber eine Chance sehe ich darin, daß die Menschen im Osten ein viel größeres Kulturverständnis haben als wir im Westen.
Die wissen, was Kultur bedeutet, auch für das Überleben. Wir haben nie begriffen, daß ein Land Kultur als Nahrung für den
Kopf braucht. Wir im Westen müssen uns mit dieser Ost-Vergangenheit auseinander setzen, sonst bleibt Deutschland zwei
fremde Staaten, und das endet irgendwann in einem Bruderkrieg.

Was halten Sie von der Diskussion um den Begriff "Leitkultur"?

Dieser absurde Begriff ist ein weiteres Indiz dafür, wie die CDU versucht, am rechten Rand Wählerstimmen einzufangen. Im
jetzigen geistigen Klima ist so ein Begriff Brandstiftung. Deutschland gehört zu Europa und beheimatet die verschiedenartig-
sten Kulturen. Je vielfältiger, um so lebens- und liebenswerter. Deutschland wird mit dem Begriff "Leitkultur" zu einer dump-
fen, einheitlichen Masse herabqualifiziert.

Wie kann Deutschland ein offeneres Land werden?

Daß die Regierung in Berlin sitzt, ist ein guter Ansatz. Jetzt sitzen die Politiker dort und kriegen das täglich mit. Ihre Frauen
fahren ins Umland, machen mal einen schönen Ausflug nach Neuruppin, und da stehen die Skinheads und erklären Neurup-
pin zur ausländerfreien Zone. Dann fahren die Frauen nach Hause und sagen: "Ich wollte Neuruppin angucken, aber weißt du
eigentlich, was da los ist, Alter?" Das ist eine Chance, sich anders als in Bonn mit dieser Realität auseinanderzusetzen.

Ist ein Verbot der NPD eine sinnvolle Reaktion auf diese Realität?

Nein. Der Rechtsradikalismus ist nicht mit dem Verbot der NPD mal eben effizient zur Seite geräumt. Wir müssen in viel
langwierigeren Prozessen denken. Der Westen war es gewohnt, Dinge effizient zu lösen, Geld rein, paßt, läuft, fertig,
nächstes Thema. Das ist alles vorbei. Das Land ist viel behäbiger, viel größer und zäher.

Vor der Bundestagswahl hat Schröder Quasi - Abgesandte aus der Kultur um sich geschart. Wären sie da auch gern dabei
gewesen?


Mir ist das suspekt. Wie bei Tony Blair: reines, plattes Marketing. Wenn ich Schröder mit Künstlern auf Titelbildern sehe,
graut es mir. Schröder interessiert ja in Wirklichkeit keine Musik und kein Buch. Naumann hat wenigstens schon eines gele-
sen. Der ist ja auch ganz nett. Ein Kanzler hat sich aus der Kultur herauszuhalten. Künstler wie auch Journalisten haben als
Freigeister und als außerparlamentarische Kontrollinstanz zu funktionieren.

Die können dann aber nicht viel mehr als kritische Beobachter sein.

Aber was nützt es mir, mit Politikern an einem Tisch zu sitzen, die das sowieso nicht interessiert? Die sehen nur das Foto
mit mir. Das beste Beispiel war Kohl. Der ist zu Bärbel Bohley gegangen, hat mit der Kaffee getrunken, damit war die Bohley
verschluckt- Pacman-Mentalität. Kunst aber muß gefährlich bleiben, unberechenbar.

Sie waren beim letzten Fußballspiel im Londoner Wembley-Stadion, Deutschland gegen England. Für wen haben sie geju-
belt?


Für Deutschland natürlich. Ich war da zum ersten Mal in meinem Leben bei einem Länderspiel. Für die Engländer ist ein
Spiel gegen Deutschland ja ein Ersatz-Krieg. Und die deutschen Zuschauer sangen: "Steht auf, wenn ihr Deutsche seid",
das war natürlich grausam. Dann kam von den Engländern der Schlachtgesang "Footballs coming home". Aber die Reaktion
der Deutschen war doch relativ cool: Sie fingen einfach an, auch "Footballs coming home" zu singen. Das hat die Engländer
überrascht. Alle jubelten.

Und Sie?

Klar, ich habe auch mitgesungen. Aber im Ausland merkt man eben selber plötzlich, wie sehr einem das eigene Land ans
Herz gewachsen ist.