HERBERT GRÖNEMEYER
Artikel und Interview von ARNE WILLANDER (Rolling Stone, Mai 1998)
DAHINTER STECKT IMMER EIN QUERER KOPF

Herbert Grönemeyer über Pop, Politik und neue Perspektiven


Nach seinem Ortswechsel von Köln nach Berlin vor drei Jahren kehrt Herbert Grönemeyer nun mit dem neutönenden Album "Bleibt alles anders" auf die Bühne zurück. Seine neue Position in Deutschland erklärte er Benjamin von Stuckrad-Barre und
Arne Willander.
Die 80er Jahre seien eine einzige "Lange Vortragsreihe" gewesen, sagt Herbert Grönemeyer heute, ausgerechnet Peter Ga-
briel zitierend, der die Karawane mit seinen "Real World"- Volkshochschulkursen eröffnet hatte, und weiter ging es mit "Live
Aid" und Hilfe für "amnesty international". In Deutschland hieß es "Nackt im Wind", später traf man sich bei Wackersdorf ge-
gen Atomkraft und noch später in Frankfurt gegen Ausländerfeindlichkeit, da waren die 80er Jahre schon beendet und Gröne-
meyer desillusioniert. Das semmelblonde HG-Männchen hatte sich aus voller Kehle überall eingemischt, veranstaltete Open-
air-Konzerte auf entlegenen Wiesen bei Grömitz und ließ dort die Fahnen im Sturm flattern. Die Band wurde verweht, Gröne-
meyers Organ triumphierte über die Widrigkeiten, die Kartenpreise lagen bei kumpelhaften 30 Mark.
1984 war er plötzlich ganz oben, ein linkischer Jüngling, der in Wolfgang Petersens "Boot" eine Rolle gespielt hatte und in
Peter Schamonis "Frühlingserwachen", ein Romantiker am Klavier, dessen erstes Album bereits 1979 erschienen und ohne
Aufmerksamkeit geblieben war. Trotzdem durfte der Eleve weitermachen. Nachdem er auf den ersten beiden Alben zunächst
fremde Stücke und fremde Texte gesungen hatte, wagte er auf "Total egal" und "Gemischte Gefühle" eine Lyrik, die ebenso
intim und unmittelbar wie mitunter peinsam geriet. Songs wie "Currywurst", "Kaufen" und "Musik nur, wenn sie laut ist", erst
als skurril bespöttelt, wurden dennoch Gassenhauer, die später die Arenen erschütterten. Grönemeyers Gegröle quälte ir-
gendwann sogar die Dauer-Freundin Anna, der er eines seiner schönsten Lieder widmete - kürzlich, so Herbert, hätte sie
ihn daheim gebeten, "etwas weniger" zu knödeln.
Die unverstellte, querständige und raunzende Emotion war es, die "Bochum" zum Album einer Generation machte, die sonst
Prince und Springsteen hörte und nach der "neuen deutschen Welle" nicht viel vom Einheimischen wissen wollte. "Männer"
orgelte unumgänglich aus allen Radios, im Fernsehen stellte Grönemeyer sein niedliches kleines Keyboard auf und ham-
pelte in Weise herum, die zu der Parodie "Grönemeyer kann nicht tanzen" ermunterte. Das Lied wendete seine Karriere;
"Alkohol", "Flugzeuge im Bauch" und "Amerika" folgten. Die Liebeserklärung an seine Heimatstadt ("Du bist keine Schön-
heit/ Vor Arbeit ganz grau") taugte offenbar zur Identifikation in einem Land, das Lokalpatriotismus nur in Form von Provin-
zialismus zuläßt. Der Volkstribun Grönemeyer hielt sich danach - auf den Alben "Sprünge" und "Ö" - mit deftigen politischen
Statements ("Lächeln", "Tanzen" und "Angst") nicht zurück, doch die Republik blieb, wie sie war und Kohl ließ sich nicht
wegsingen. "Luxus ist das, was uns zusammenhält" befand Grönemeyer 1990 und dann brach das blanke "Chaos" aus, bra-
chen Grönemeyer aber auch die Themen weg.
Heute wirkt der 41jährige Feuerkopf erstaunlich entspannt. Im Berliner Hotel Adlon, wo für eine Konferenz mit den Granden
seiner Plattenfirma gleich die "Präsidenten-Suite" im höchsten Stockwerk mit präsidialem Blick über das Brandenburger Tor
gemietet wurde, amüsiert sich Grönemeyer über den feudalen Prunk und nascht Erdbeeren von der Früchteplatte, während er
sich im Redefluß kaum bändigen läßt. Noch immer freilich kontrolliert er seine Angelegenheiten pedantisch – das mitge-
brachte DAT-Tape von "Bleibt alles anders", das die Reporter zuvor demutsvoll in der Sitzecke anhören durften, verschwindet
später wieder in der Sporttasche. In der Suite gibt es neben Whirlpool, Sauna und Kamin auch einen Arbeits- und Konferenz-
raum, dekorativ herumstehende Schälchen enthalten Pralinen, Kugelschreiber harren der Mitnahme. Ein Überwachungs-
bildschirm erlaubt die Kontrolle des Flurs vor der Tür.
Plötzlich erscheint Grönemeyer in dem Geviert, begleitet von seiner Managerin und klopft an die Tür. Statt des charakteri-
stischen Scheitels trägt Herbert nun eine Kurzhaarfrisur mit Bürzel und macht den Eindruck, er könnte jederzeit beim Bolzen
im Jugendfreizeitheim mitmischen. Im Gespräch bestechen seine komödiantischen Ausbrüche, die schwer zu dokumentie-
ren sind - darunter die Präsentation jener "Bananentexte", die er über seine komponierte Musik singt, solange seine eigentli-
che Lyrik noch nicht geschrieben ist. In einer "neuen deutschen Komödie" will Herbert Grönemeyer in absehbarer Zeit jedoch
nicht mitspielen, wie er zum Schluß der zweistündigen Unterhaltung versichert.

Herbert Grönemeyer: Echt beeindruckend hier.

Fünf Jahre gar nichts gemacht oder allenfalls Aufarbeitungen von Vergangenem - womit hast Du Dich in der Zeit beschäf-
tigt?


Ich bin vor drei Jahren von Köln nach Berlin gezogen, mußte aus Köln einfach mal raus. Es wurde mir zu eng, ich drehte
mich nur noch um mich selbst.

Aber an der Kölner Szene hast Du doch ohnehin nicht teilgenommen.

Überhaupt nicht. Ich war kein Kölner. Ich hab da gewohnt, bin aber nicht vorgekommen. Durch die immer größer werdende
Branchenpräsenz bekam ich immer mehr das Gefühl, es sei bloß Kulturverwaltung.

Wie kam es zur Veröffentlichung des Remix-Albums "Cosmic Chaos" - auf Wunsch der Plattenfirma?

Nein. Es gab einen Remix von Alex Christensen von dem Song "Chaos", der stand plötzlich in den Disco-Charts, und die
Plattenfirma war verwirrt. "Das kannst Du jetzt nicht machen!" "Doch, das kann ich, ich find das gut", hab ich gesagt. "Cos-
mic Chaos" hab ich veröffentlicht.

Danach gab es 1995 die Doppel-Veröffentlichung "Live" und "Unplugged".

Auch die habe ich zum Teil gegen den Willen meiner Plattenfirma herausgebracht, denn das "Unplugged" habe ich bei MTV
gemacht und EMI ist ja an VIVA beteiligt. Das Konzert war aber einfach gut, während unsere Konzerte sonst als Mitschnitt
das Grauen sind. Und "Live" antwortete auf viele Anfragen – ich bin kein Freund von Live-Platten. Da mußte ich auch einiges
reparieren. Authentische Live-Platten gibt es ja eigentlich gar nicht mehr.

Es gab mal eine Pressemitteilung, in der es hieß, mit jungen Techno- und House-Mixern wolltest Du nicht zusammenarbei-
ten, die kämen ohne Dich besser klar. Warum kam es dann trotzdem zustande?


Remixes haben wir schon immer gemacht. Es gibt eine "Extended Version" von "Männer", einen Remix von "Was soll das?"
und einen von "Luxus". Mich hat immer interessiert, wie ein Remixer, der Grönemeyer sonst nicht hört, damit umgeht – und
interessiert mich wiederum sein Ergebnis? Es hilft mir, die eigenen Stücke mit Distanz zu sehen.

Das neue Album "Bleibt alles anders" ist von elektronischen Sounds geprägt. Hast Du die Arbeit diesmal anders delegiert?

Früher haben wir alles selbst programmiert. Diesmal habe ich einen Programmierer gesucht, der mir das so macht, wie ich
es haben möchte. Drei Jahre habe ich gesucht, und dann habe ich zum Glück Alex Silva gefunden. Aber ich mache jetzt ja
nicht auf HipHop oder House - sondern es ist eine Weiterentwicklung meiner Musik.

Trotzdem fragt man sich an manchen Stellen, ob da überhaupt noch Deine alte Band mitspielen durfte.
Ja.

War die Band beleidigt, weil sie an manchem nicht beteiligt war?

Da muß man die Musiker fragen. Natürlich fanden sie das nicht besonders komisch. Andererseits: "Bochum" habe ich zum
größten Teil selber eingespielt. "Flugzeuge im Bauch" habe ich komplett allein aufgenommen.

Kann man in den großen Hallen die Loops und all die Tricks reproduzieren?

Wir werden bei der Tournee mit Tapes arbeiten. Die Loops werden eingespielt, das haben wir schon früher gemacht und wer-
den es jetzt ausweiten.

Woher kommt der neue Ansatz?

Ich höre ganz andere Musik als meine Band, viel DrumnBass. Ich hör mir auch Konzerte an. Meine Musiker wollten mit mir
übrigens nie eine Band gründen wie "Selig" oder wie "Die Antwort". Vor "Bochum" habe ich sie gefragt, und dann wollten die
nicht. Nö. Ich habe immer in Bands gesungen. Als ich noch erfolglos war, hieß es, ich solle mal zu Edo Zanki fahren, und
der sollte aus diesem erfolglosen Studenten etwas herausholen. So bin ich mit der Band zusammengekommen. Damals ha-
ben die bei mir nicht viel Potential gesehen. Über die Jahre sind wir dann schon eine tolle Band geworden. Das ging bis "Lu-
xus", die ich für meine saturierteste, musikalisch langweiligste Platte halte. Das konnte es nicht sein. Bei "Chaos" haben wir
versucht, es wieder rauher, spröder hinzukriegen - und haben gemerkt, daß wir darüber nicht hinauskommen. Dann traf ich
Alex Silva und so entstand "Bleibt alles anders".

Bei EMI gab es bekanntlich viel Gezänk, und es gab auch Gerüchte um Deinen Wechsel zum Label V2.

Wir sind überhaupt nur gerade hier, weil eben der Vertrag mit EMI verlängert wurde.

So schnell geht das?

Nee, das hat lange gedauert. (lacht) Darf ich mal ne Zigarette? Die sind aber stark. Ich rauch ja selbst. Bei EMI findet jetzt
auch eine Umstrukturierung statt. Außerdem hat die Firma einen sehr guten Vertrieb, und ich habe dort wunderbare An-
sprechpartner, mit denen ich gut arbeiten kann. Ich habe jetzt auch mein eigenes Label, Grönland, aber ich brauche trotz-
dem gute Partner. Die mußte suchen, die mußte finden. Die Ambition ist, sich so bewegen zu können, wie man es gern
möchte - und das auch mit anderen Bands. Und zwar mit längerer Perspektive, was große Plattenfirmen sonst eben nicht
mehr leisten. Den Bands wird nicht genügend Zeit gelassen. Ich kann Bands vor zuviel Hysterie schützen.

Du hast vor Jahren gesagt, daß in der Rockmusik die Akzente nicht in Deutschland gesetzt werden. Neuerdings hat sich
das gewandelt. Blumfeld, Tocotronic
...

...Die Sterne.

Glaubst Du, daß die Witze über Dich machen?

Wahrscheinlich. In deren Augen bin ich eher das Feindbild. Die benutzen Sprache ganz anders. Da stellen die Etablierten
eine Reibungsfläche dar.

Heinz Rudolf Kunze wollte die jungen Talente vereinnahmen, aber die haben sich dann über ihn lustig gemacht... Sind das
Radaubrüder, die sich über die Väter amüsieren?


Ich bin ja kein Vater! Also Kunze, nö (lacht), das ist irgendwie nicht interessant genug. Es gibt Leute, da schlafen dir die
Socken ein. Ich kann nicht sagen, wie Kunze das vielleicht gemacht hat: "Ich lad Dich jetzt mal ein und dann mach ich auf
dufte." Wir stehen da als Kolosse und die anderen reiben sich daran.

Und wie ist der Stand der Kolosse? Seit Wackersdorf gab es ja nur noch Vereinzelte; Westernhagen, Niedecken...

Wackersdorf war ein Desaster, da ist die Szene der 80er Jahre eingebrochen. Das war das absolut überhebliche Desaster,
bei dem wir gezeigt haben, daß wir nicht in der Lage dazu waren, ein Konzert zu organisieren, bei dem Geld übrig bleibt. Da
gabs auch Mord und Totschlag hinter den Kulissen.

Das "Heute die, morgen du" 1992 verlief auch nicht ohne Komplikationen.

Das war der Abgesang. Ich hab mich dummerweise breitschlagen lassen, da zu spielen. Erstmal sagte Fritz Egner mir, ich
solle nicht politisch werden - da dachte ich schon, ich sei auf der falschen Veranstaltung. Richtig bunt wurde es erst später:
Ich saß beim Chef der Plattenfirma, sah eine Video- Kassette mit einem Konzertmitschnitt und fragte: "Was is das denn
hier?" Er: "Das ist ne Kassette." Ich sagte: "Das seh ich, daß das ne Kassette is." Es war dieser Lufthansa-Engel drauf.
"Wer hat das freigegeben?" fragte ich. "Wir, die Plattenbosse." Das kann ja wohl nicht angehen, daß die das an die Luft-
hansa verscheuern! Und dann hab ich alles wieder eingezogen. Die Plattenbosse waren zu feige zuzugeben, daß sie
Deutschlands Künstler nicht gefragt hatten. Da bekam ich Schmähbriefe von den Goethe-Instituten; irgendein Rockverbands-
Trottel forderte, ich solle das Land verlassen.

"Bleibt alles anders" ist vage formuliert, wirkt aber optimistisch. Ist das Millionärs-Borniertheit?

Als Millionär mag ich borniert sein, das kann sein. Aber in dem Song geht es darum, daß man die Verantwortung nicht im-
mer abgeben kann. In Deutschland sind wir es gewohnt, daß uns jemand vorbetet, was wir zu denken haben.

Es ist eine Vertonung von Herzogs Ruck-Rede, die hier im Hotel Adlon gehalten wurde.

So ähnlich, ja. Aber im Ernst: Ich habe sprachlich eine neue Form versucht. Die ist viel offener und metaphorischer. Man hat
nicht den Eindruck, daß Du die Zeit kommentierst, aber dennoch wird es der Song zur Wende. Es geht offenbar darum, wie
sich das Individuum im Kontext verhält. Das signalisiert auch das Video. Das Video zeigt, daß man vor sich nicht weglaufen
kann und, wenn man es politisch deutet: Herr Schröder ist nicht die Lösung, wir sind selbst gefordert. Man muß sich in den
Hintern treten. Es geht vor und zurück, aber darin liegt auch eine Chance. Man hat sein Schicksal in die eigene Hand zu neh-
men. Der Stau und die Ohnmacht, die viele jetzt empfinden, werden demnächst zum Ausbruch führen. Mich interessieren die
Parteien nicht mehr, viele interessieren sich nicht mehr für die Parteien. Ich glaube, daß es wieder eine große außerparla-mentarische Opposition in Deutschland gibt. Es gibt eine kollektive Wut, die bei den Parteien verloren ist.

Muß Christoph Schlingensief Kanzler werden?

Was er macht, finde ich richtig. Er artikuliert eine Stimmung, die nichts mehr mit den Parteien zu tun hat.

Was war eigentlich der "Idee e.V."? Witta Pohl war auch dabei.

Na, "Idee e.V." hatte sich zum Ziel gesetzt, Demokratie vital zu halten. Wir haben ja in Deutschland erst seit sieben Jahren
eine Demokratie, vorher hatten wir keine, behaupte ich. 1989 haben wir eine Aktion gegen FCKW gemacht, damals kam ich
dazu. Dann habe ich die Aktion "Ich bin ein Ausländer" initiiert. Und der größte Spaß war die Aktion "Du sollst nicht lügen",
nach der Steuerlüge. Damals wurde ich gefragt, wie viele Leute dahinterstecken. Ich antwortete: so 30000, 40000 Leute. Es
waren zwei. Ich hab dann Anzeigen geschaltet, und im Bundestag wurde gerätselt, wer das sein könnte, Kommunisten oder
PDS? Man muß einfach Irritationen erzeugen. Der Lauschangriff, zum Beispiel, ist die größte Idiotie.

Sind Die Grünen durch Assimilation unmöglich geworden? Vor sechs Jahren hast Du Dich noch öffentlich zu den Grünen
bekannt. Gilt das heute noch?


Gut, wenn ich sagen würde: "Ich wähle" - dann würde ich immer noch Die Grünen wählen. Wenn das Wählen meine einzige
politische Aktion wäre, dann wäre das allerdings sehr traurig. Die Menschen eint zur Zeit die Wut. Wenn man sich vorstellt,
daß die Arbeitslosen in Deutschland sich organisieren, wenn die auf die Straße gehen würden! Dann würde man sie endlich
sehen.

Aber es gibt ja auch Verteilungskämpfe und die Angst, man könnte selbst bald dazugehören.

Das ist es ja. Wenn man das bei sich selbst feststellt, dann merkt man, wie gravierend das Problem schon ist. Die Situation
ist kurz vorm Explodieren. Der Lauschangriff ist die absolute Bankrotterklärung der Bonner Politik. Es ist der zweite Verrat
der SPD an ihren Grundlagen nach der Asylrechtsänderung. Der reine populistische Schwachsinn. Krank. Die sind alle gaga.
Blöder und trauriger gehts nicht.

Nach all den Lichterketten und wohlmeinenden Bürgerprotesten ist der Rechtsradikalismus zwar noch ein Problem, aber
kein Thema mehr
.

Ich habe selbst ein Projekt in Leipzig, mit dem ich ein Jugendheim unterstütze, das sich um Rechtsradikale kümmert. Der
Rechtsradikalismus ist aber nichts anderes als eine Äußerung der Wut von Jugendlichen, die sich verlassen fühlen, zumal
im Osten. Das Rohr wurde nach der Wende repariert, aber es wurde nicht überlegt, daß das Badezimmer voll Wasser steht.
Es gibt keine Perspektive, keine Anlaufstelle mehr. Es ist ein ohnmächtiger Aufstau von Aggression.

"Die Härte" war die Benefiz-Single für das Jugendheim.

Das liegt in Grünau, einer riesigen Plattenbausiedlung und es sollte geschlossen werden. Rechtsradikale durften da nicht
rein. Ich bot an, ein anderes Jugendheim auch für diese Leute zu eröffnen, wenn das alte bestehen bliebe. Die Stadt Leipzig
hat es nach einem Jahr bewilligt. Und wir haben die sogenannten Rechten dann bei Prozessen und bei ihrer Arbeitssuche
begleitet. Wenn man ihnen die Gelegenheit bietet, von sich zu erzählen, dann können sie Dampf ablassen.

Trittst Du da selbst in Erscheinung?

Ich habe jemanden, der sich für mich kümmert, einen Bewährungshelfer aus Aachen, und ich selbst fahre ab und zu auch
hin. Aber die Jugendlichen sagen: "Ob der Grönemeyer da nun Geld gibt oder ein anderer, ist uns egal." Und auch das Lied
fanden sie natürlich scheiße. Aber darum gehts auch nicht. Die fühlen sich verraten und verkauft. In Berlin bekommt man die
Ost-West-Konflikte und diese Spannung direkt mit. Viel plakativer als etwa in Köln.

War der Hauptstadt-Taumel auch ein Grund, nach Berlin zu ziehen?

Nein, Hauptstadt-Taumel gibt es hier gar nicht. Berlin hat eine unglaublich stimulierende Atmosphäre. In einer englischen
Zeitung hieß es, wer das 21. Jahrhundert erleben wolle, müsse nach Berlin gehen. Hier ist die Zukunft: Ost und West treffen
aufeinander.

Wie hast Du als Musiker früher den Osten erlebt?

Ich habe mich vor der Wende immer geweigert, im Osten zu spielen. Die haben uns immer eingeladen. Aber ich bekam viel
Post von Jugendlichen, die schrieben: "Spiel hier bitte nicht, wir kriegen nie ne Karte." Die ersten Konzerte nach der Wende
haben wir in Berlin gespielt, vor rund 100000 Leuten.

Nach 1989 warst Du vermutlich überrascht, daß alle die Texte auswendig konnten.

Ja, das ist wie der erste Flirt. Die kannten mich natürlich besser als ich sie, obwohl ich auch ein halbes Jahr in der DDR leb-
te, weil ich 1982 zwei Filme dort drehte. Man ist ganz perplex. Die Gefühle, die einem bei solch einer ersten Begegnung ent-
gegengebracht werden, sind ganz unmittelbar und frisch. Auch heute noch sind die Menschen in Osten, was Kultur anbe-
langt, viel gebildeter als wir, denn für sie war Kultur ein Überlebenselixier. Für uns kommt Kultur nur zwischen acht und zehn
Uhr abends oder wenn es nicht stört. Die aber sind unheimlich wach.

Macht eine Band wie "Pur" Dich ratlos? Die berufen sich ja auf Dein Frühwerk.

Ich denke, wir müssen einen Facettenreichtum bekommen. Langweilig war Ende der 80er Jahre, daß da nur drei Hohlköppe
standen, um die es ging. "Pur" interessiert mich nicht, ich kann zu denen nichts sagen, ich kenne deren Musik gar nicht.

Aber irgendwoher mußt Du ja wissen, daß es Dich nicht interessiert.

Naja, ich kenn aus dem Radio nen Titel oder hab schon mal n Video gesehen. Wichtiger ist: Wie wild und bunt wird die Sze-
ne? Ende der 80er Jahre war es doch definitiv zu mainstreamig geworden.

Du hast geschwiegen zu der Rockbeamten-Aktion um die deutsche Radio-Quote.

Das war aber auch Überlebenstraining, was da ablief. Was der Quatsch sollte, hab ich überhaupt nicht kapiert. Bescheuert!
Doofer gehts gar nicht. Völlig affig.

Kann man überhaupt mit solchen Erlässen eine Szene fördern?

Völliger Quatsch. Die Verlage, Labels und Plattenfirmen merken allmählich, daß es nicht geht, nur mit den Großen den Um-
satz zu machen. Ohne Unterbau geht es nicht. Sie haben ja auch keine Bands, an denen sie sich noch freuen können. Egal,
wie viele Platten von Grönemeyer verkauft werden – der Freude-Effekt ist sehr gering. Wenn man allerdings eine junge Band
durchbringt, dann können alle zusammen abends in der Kneipe sitzen und sich freuen. Man hat begriffen, daß deutsche
Musik singbar und verkaufbar ist. Quote ist Stumpfsinn. Das Selbstverständnis muß hergestellt werden.

Wie groß ist die Verantwortung nach acht erfolgreichen Alben?

Das ist nicht das Thema. Eine Plattenfirma ist für ihre Größe und Struktur selbst verantwortlich. Ich bin kein Angestellter, ich
mach keine Auftrags-Produktionen.

Früher hast Du mal gesagt, daß von Dir Arbeitsplätze abhängen.

Natürlich ist das so, und natürlich will man auch gemeinsam mit der Platte Erfolg haben. Aber ich muß die Musik machen
dürfen, wie ich es will. Ich weiß, welche meiner Songs Mist sind, die laufen aber mir nach, nicht der Plattenfirma.

Wenn "Bleibt alles anders" von allein kein Hit wird, hofft man dann auf "Wetten, daß...?"

Das ist ne sperrige Nummer, die erfüllt keine Hörgewohnheiten, die ist so eigensinnig und speziell. Diese Platte, gerade
auch der Song, ist für den Grönemeyer-Hörer zunächst eine Irritation. Aber ich muß doch das Gefühl haben, daß ich mich
entwickle. Natürlich sage ich: "Das ist ein Riesen-Hit!" (lacht)

Man kann es einfacher haben.

Kann man, aber dieses Stück beschreibt am präzisesten, worum es mir geht.

Gibt es noch Diskussionen um so eine Single? Oder verbittest Du Dir das?

Ich verbitte mir das nicht, aber ich weiß, mit wem ich darüber rede. Ich sage ja nicht, ich wüßte Bescheid. Aber bei dieser
Platte war ich mir sicher. Dieser Song umfaßt das gesamte Album. Bei dieser Platte weiß ich, die ist kompakt, ich kann mit
allen Stücken etwas anfangen. Wie sich die Leute damit befassen, das weißte nicht. War bei "Bochum" nicht anders. Das
klingt jetzt sentimental, aber die sind damals mit "Männer" vom Rundfunk zurückgekommen – die Sender hatten sich
geweigert, das zu spielen. Und auch diesmal gibt es einige Radiostationen, denen die Nummer angeblich einfach nicht in ihr
Programm paßt. Wo das alles hinführt, weiß ich nicht. Ich nehm mir noch ne Zigarette.

Bleibt alles anders.

Genau.