HERBERT GRÖNEMEYER
Interview von TANJA STELZER (Tagesspiegel online, 2001)
MAN SOLLTE KOMÖDIANTEN ZU DEN TRUPPEN SCHICKEN

Ihre letzte Erinnerung an Berlin ist schmerzhaft. Beim Konzert am Brandenburger Tor sind Sie gestürzt ...

Ich war so ungestüm an dem Abend, das fing an bei "Alkohol". Dann bin ich über den Catwalk ins Publikum gelaufen, die
Bühne war anders als sonst. Ich bin vom Boden abgehoben, und in der Luft wußte ich schon, das wird grauenvoll. Als der
Fuß aufsetzte, gab es einen Knall, wie ein Pistolenschuß, das war mein Meniskus. Und das Kreuzband.

Sie haben dann gesungen: "Deine Tränen werd ich übernehmen, alle Qualen und alle Foltern überstehn."

Man hat einen enormen Adrenalinpegel bei so einem Konzert, das ist wie beim Fußball: Wenn du eine Verletzung hast,
merkst du das erst nach dem Spiel.

Das Brandenburger Tor ist ein symbolischer Ort, die neue Berliner Republik ...

...die gibt es nicht, und ich hoffe, es wird sie nie geben. Die Politiker haben noch keinen Plan für dieses neue Deutschland,
wie die Berliner, die zur Wahl stehen, keinen Plan für das wiedervereinigte Berlin haben. Gysi nicht für den Westen, Steffel
nicht für den Osten. Intellektuell, politisch und kulturell gibt es niemanden, der der Situation gewachsen ist, weder für
Deutschland noch für Berlin - es kann noch niemanden geben. Ich glaube, es ist gar nicht geklärt, ob Deutschland überhaupt
zusammengehören will. Dieses Land ist ja erst elf Jahre alt. Auch die Stadt ist nicht fertig, Berlin, das sind zwei verletzte
Teile, die erst langsam anfangen, sich zu durchbluten.

Ist Berlin eine Weltstadt?

Es wird nie eine sein. Deutschland ist nicht zentralistisch, das macht den Spaß aus. London ist England, da gibt es sonst
nichts, nach London kommt gleich Birmingham, das ist, als würde man sagen, nach Berlin kommt Bad Salzuflen. Paris ist
Frankreich, New York ist Amerika. Die deutsche Weltstadt besteht aus Berlin, München, Hamburg, Köln und Frankfurt.

Berlin ist Ihnen zu provinziell.

In Berlin gab es diesen Schrebergartenmuff. Als ich 1976 zum ersten Mal für ein Jahr in Berlin war ...

als Schauspieler an der "Freien Volksbühne" ...

...kam ich damit gar nicht klar. Jetzt ist die Idylle weg, und Berlin muß sich beweisen, daß es auch als großer Garten
funktioniert. Wenn man jetzt schreit: Wir sind wieder wer, ist das zu früh. Der Potsdamer Platz, der ist doch nicht mutig, an
der Stelle hätte ich mir eine härtere Bassdrum gewünscht.

Es heißt immer: Berlin ist hart, Berlin hat Tempo.

Finde ich gar nicht. Ich bin 1993 wieder nach Berlin gezogen - gut, seitdem baut immer jemand um einen herum, er baut
falsch, baut feige, baut mutig, baut zu groß, baut zu protzig. Aber ansonsten hat Berlin gar kein Tempo. Berlin hat nur eine
große Schnauze, eine herzliche, liebenswerte Schnauze, die Mentalität ist ein bißchen wie im Ruhrgebiet, wo ich herkom-
me: Die Leute tragen das Herz auf der Zunge. Doch die Stadt ist nur mit dem Mund schnell.

Klingt alles ganz schön negativ.

Gar nicht. Berlin hat einen wunderbaren wohl temperierten Charme, und das muß sich die Stadt erhalten: diese große Fä-
higkeit, daß man da leben kann, daß man seinen Kaffee im Einstein schlürft und stundenlang die Zeitung liest, in London
kann man das nicht, es gibt keine Cafés, und man hat auch gar keine Zeit.

Sie leben in London, haben noch ein Haus in Zehlendorf. Wie ist das: mit dem Flugzeug landen in Berlin?

Wenn ich nach Berlin komme, reißt es das Herz auf. Dieser große Himmel, diese Weite, das ist nicht wie hier, Downing
Street oder Buckingham Palace, in London ist alles so gestaucht. Und dann diese unglaubliche Luft. Berlin riecht so bele-
bend, London dagegen riecht wie ein nasses Handtuch, also gar nicht. In Berlin hat man das Gefühl, man kann die Luft
greifen.

Sie haben einmal gesagt: London ist auf Kreide gebaut, da kann man schlecht Wurzeln schlagen. Berlin liegt in einem
Urstromtal
.

Wenn du nach London kommst, zahlst du Clubbeitrag, damit du hier sein darfst, auch wenn du nie wirklich Mitglied wirst.
Berlin heißt einen willkommen, man fühlt sich schnell zu Hause. Urstrom, das paßt. Ich habe dieses Lied geschrieben:
"Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl." Berlin ist das dichteste Gefühl.

Sie wollen bald zurückkommen nach Berlin.

Wir sagen immer: zum nächsten Schuljahr. Aber ich will auch nicht aus London weg, ohne zu spüren: Jetzt habe ich es
verstanden, ich weiß, wie die Stadt funktioniert, dieser Dschungel. Eine der teuersten Städte der Welt, das ist der nackte
Überlebenskampf. Die Häuschen sind schön gestrichen, und hinter der Fassade leben zwölf Leute in zwei Zimmern, aber die
beschweren sich nicht. Ich fange erst an, London zu verstehen. Einen Urstrom werde ich hier nie finden.

Wohnen in New York wäre ...

...einfacher als in London. New York ist klarer. Man weiß: Diese Gegend ist gefährlich, die andere nicht. London ist viel
psychotischer.

Großstadt ist immer auch Freiheit.

Das hat sich jetzt geändert. Durch die Attentate ist die Angst in London sehr groß. Aber die Engländer sind fatalistisch. Die
sind gewohnt, mit Terror umzugehen. Es ist ja auch eine ganz alte Demokratie, die ruht in sich. Und die Engländer zeigen
keine Gefühle.

Psychologen sagen, wir seien für Generationen traumatisiert. Wie gehen Ihre Kinder mit der Angst um?

Meine Kinder haben erlebt, was Verlust heißt. Aber wie jemand mit einem Verlust umgeht, kann man von außen oft nicht
erkennen. Meine Tochter war sehr verhalten, als ihre Mutter starb. Da war sie neun. Als ein halbes Jahr später ihr Meer-
schweinchen gestorben ist, da ist sie völlig ausgerastet. Ich kann nicht mehr als mit den Kindern über die Gefahren in der
Stadt reden. Ich glaube, die einzige Chance für sie, jetzt kein Trauma zu entwickeln, ist, wenn sie sehen: Die Welt ist heute
in der Lage, das Problem intelligenter zu lösen als andere Probleme vorher.

Den Verlust Ihrer Frau haben Sie mal so beschrieben: "Es ist wie nach einer großen Explosion, und man liegt da mit einer
Aktentasche und guckt zu, wie alles zerstört ist." Das klingt wie eine Ortsbeschreibung vom New Yorker Trümmerberg
.

Dieses Monumentale, der Schmerz, wenn jemand stirbt, der für einen wirklich alles bedeutet, das kann das menschliche
Gehirn nicht fassen. Schon gar nicht in dieser westlichen Welt, wo Tod nicht als ein Bestandteil des Lebens gilt. So ein
Schock führt erst mal zu einer unglaublichen Aufbruchstimmung, man hat das Gefühl, man könnte vier Monate ohne Schlaf
durchziehen. Dann kommt erst die Realisierung, dieses bleierne Grau. Für die Amerikaner, die ganze Welt, fängt diese viel
kompliziertere Zeit erst an, ich denke mal, in einem halben Jahr; dann dauert das, sagen wir, zehn Jahre.

Spüren Sie dieses Grau immer noch?

Das wird nie weggehen. Aber die anderen Farben bekommen verrückterweise eine andere Brillanz.

Eine neue Art der Wahrnehmung.

Man dreht den Film rückwärts. Das Irre ist, daß viele Dinge plötzlich wie in einem Kinofilm einen Sinn ergeben. Mit Lied-
texten geht es einem so, eigenen Texten, die man vorher gar nicht verstanden hat.

Seltsame Koinzidenzen.

"Bleibt alles anders" habe ich in einer Kirche aufgenommen. Die Platte mochte ich, die Kirche nicht. Gegenüber war das
Krankenhaus, in das Anna dann gekommen ist. Auf dem Cover habe ich schon den Mantel an, den ich auf der Beerdigung
trage.

Diese Vorboten - merkt man, wenn der Tod da ist?

Wenn man so eng mit jemandem verbunden ist, hat man dafür keinen Blick. Ich habe es erst ganz kurz vorher gemerkt.
Wenn dieses Ereignis dann eintritt, verändern sich Zeit und Raum, das ist, als wenn die Luft sich auftut, als wenn aus einem
Raum von 100 Kubikmetern 20000 werden, es tritt eine andere Phase ein in der Atmosphäre. Und dann schaltet der Mensch
wieder ab, da steht er wie vor einem Bombenangriff, er steht einfach außerhalb. Als ich die Fernsehbilder von New York ge-
sehen habe, kamen diese Gefühle sehr stark wieder hoch. Ich weiß, durch welche Phasen diese Menschen jetzt gehen
müssen.

Es gibt Schilderungen von Menschen, denen kalt wird beim Anblick des Todes.

Mir wurde kühl, und ich wurde kühl. Das hat mich verwirrt. Man hat mir später erklärt, daß, wenn solche Dinge passieren, im
Mittelhirn ein Stoff ausgeschüttet wird, der friert das Gehirn ein. Sonst würde der Mensch durchdrehen.

Sie haben das wohl Schlimmste erfahren, was man sich vorstellen kann. Kann man nach einer solchen Erfahrung noch vor
irgend etwas Angst haben?


Man wird fatalistischer, angstfreier. Man hat weiter Angst um seine Kinder, aber ich habe keine Angst mehr vor körperlicher
Brutalität, überfallen zu werden, vor Einbrechern. Keine Existenzängste. Aber völlig ohne Angst zu sein - das gibt es nicht.
Die größte, die der Mensch hat, ist, alleine zu sterben.

Was hilft gegen Angst?

Der Glaube daran, daß Menschen etwas Einmaliges, etwas Lustiges sind und farbenfroh. Jeder Mensch ist eine Farbe auf
dieser Welt, und ich bin eine ziemlich verwirrte Farbe. Die Zuneigung, die ich erfahren habe, hat mir geholfen. Auch in die-
sem egomanischen New York gibt es plötzlich eine Gemeinschaft.

Wann kann man wieder lachen, wieder feiern?

In jeder Verzweiflung steckt ja ein Witz. Man ertappt sich dabei, daß man lacht, kichert, aber kein Mensch weiß, wo steht,
daß man da nicht lachen darf. Ich erinnere mich, wie ich mal mit jemandem auf einer Beerdigung war, dessen Vater gestor-
ben war. In der Kirche mußte der unglaublich lachen, weil eine Schleife auf einem Kranz so absurd war. Das war pietätlos,
aber im gleichen Moment eine Form von Befreiung.

Haben Sie etwas gelernt aus dem Verlust Ihrer Frau und Ihre Bruders?

Anna und mein Bruder sind innerhalb einer Woche gestorben, zwei Menschen aus meinem Leben, im gleichen Alter, in der
so genannten Mitte des Lebens. Da wird einem klar gesagt: Du stirbst. Man steht dem Leben radikaler gegenüber.

Kann eine ganze Kultur aus einem Verlust lernen?

Durch diesen Einbruch wird die westliche Welt ihre Identität überdenken. Der Westen war nie darauf vorbereitet, sich einer
kulturellen Frage zu stellen. Kultur war in den vergangenen 50 Jahren Entertainment: Man ging abends ins Theater, und die
Frau zog sich ihr neues Kleid an. Jetzt sieht man, daß andere Teile der Welt sich kulturell viel stärker definieren. Da sagt
sogar der Sicherheitsberater vom alten Bush: Wir haben Jeans und Pornographie, und das wollen die Moslems nicht - das
kann man doch nachvollziehen.

Mohammed Atta hat in Hamburg gelebt, ohne sich von der westlichen Zivilisation überzeugen zu lassen.

Es ist ein Kulturkampf, der jetzt anbricht, auf grausame Weise ausgeführt, das ist zynisch, aber er hat einen tieferen Sinn:
Wir müssen begreifen, daß nicht alle singen wollen wie wir, daß die Welt noch eine andere Musik kennt. Diese Katastro-
phen könnten eine Chance sein, daß sich die Kulturen gegenseitig respektieren. Bush hat den grausamen Satz gesagt:
"Wer nicht für uns ist, ist gegen uns."

Ihr Song "Angst" beschreibt genau die Situation, in der wir uns heute befinden: "Angst als Methode angewandt / das Ein-
schüchtern ist geplant / Angst stellt ruhig / Angst kriegt klein / Angst voreinander / Angst rauszugehen / Wir sind uns alle
verdächtig
."

Als ich "Angst" machte, war gerade Helmut Kohl an die Macht gekommen - und ich hatte das Gefühl, der hat so eine Macht-
sehnsucht. Dann diese Aufrüstung der Amerikaner. Angst vor Waffen, Angst vor dem Feind. Ich sah kommen, daß man aus
lauter Angst den Mut verliert, seinen Mund aufzumachen. Die Kultur wurde dann auch wirklich sehr sprachlos.

Angst vor dem Mainstream?

Ja, zu den Anfälligkeiten der Deutschen gehört, daß sie sehr gerne einen haben, der ihnen sagt, wo es langgeht. Das war
unter Bismarck so, unter Hitler, unter Ulbricht in der DDR, unter Helmut Kohl. Das war meine große Angst, und das ist auch
jetzt so.

Ihr Lied "Amerika" stammt auch aus der Zeit. Sind Sie immer noch Antiamerikanist?

Ich habe nichts gegen Amerika, habe ich noch nie gehabt, aber ich finde, gerade jetzt ist für Europa der Zeitpunkt gekom-
men, sich zu emanzipieren: Wir unterstützen euch in der Jagd der Terroristen, aber wir bomben nicht wild durch die Gegend.
Proamerikanismus, das kann nicht heißen, daß wir Amerika jetzt blind unterstützen. Für solche Entscheidungen ist
Deutschland noch gar nicht reif, und das ist auch keine Freundschaft, das ist Feigheit.

Ein Stück Lebensgefühl der 80er Jahre ist zurück: Der Krieg als Möglichkeit.

Das Bedrohliche ist: Wenn es jetzt nicht gelingt, parallel zu den militärischen Aktionen diplomatisch eine Perspektive aufzu-
zeigen, daß und wann sich Amerika aus dem Mittleren Osten komplett zurückzieht, wird die Luft extrem heiß. Es stimmt,
daß plötzlich ein Grauschleier über der Welt liegt, der aber verrückterweise die Menschen eint.

Was kann man tun gegen den Grauschleier?

Witze erzählen. Als Oscar Wilde auf dem Sterbebett liegt, guckt er auf die Tapete, die ganz häßlich ist, und sagt: Einer von
uns muß jetzt gehen. Die Engländer haben das verstanden: Sie haben immer noch einen Witz auf Lager. Sie gehen nicht,
ohne kurz vorher noch einen dummen Witz zu machen.

Macht Witze statt Krieg.

Man sollte Komödianten zu den Truppen schicken.
Bei Monty Python ist die gefährlichste Waffe der Welt ein Witz. Eine Armee wird aufs Schlachtfeld geschickt mit Schildern,
auf denen dieser Witz steht, und die Feinde lachen sich reihenweise tot. Lachen ist erlaubt, weil man die Energie braucht,
die dadurch entsteht, auch durch Zwischenmenschlichkeit, durch Sexualität. Weil man lacht, muß man ja nicht gleich in der
Spaßgesellschaft versinken.

Die Spaßgesellschaft - hören Ihre Kinder eigentlich Ihre Platten?

Nicht mehr. Vieles ist ihnen zu jammerig, sie mögen eher so Sachen wie von "Bochum". Balladen können sie nicht leiden.
Wenn sie im Studio hören, was ich gerade arrangiere, geben sie klare Kommentare ab: "Das spielst du doch nie live" oder
"Wer soll sich denn das anhören." Manchmal auch: "Das ist klasse", "Der Groove ist besser." Ich habe da keinen Promi-
Bonus.

Worum wird es auf Ihrer neuen Platte gehen?

Keine Ahnung. Die Musik ist fertig, jetzt kommen die Texte. Ich denke mir für jeden Song fünf verschiedene aus, oder zehn,
die sind völlig unterschiedlich. Irgendwann merke ich: Der paßt zu dem Grundgefühl, das die Musik schon hat.

Welches Grundgefühl haben die neuen Songs?

"Bochum" und "Ö" waren lebensbejahend, "Bleibt alles anders" war die nachdenklichste Platte. Die nächste wird vielleicht
dazwischen liegen. Es wird der Versuch sein, eine Gegenwart herzustellen.

Aufbruch in die Gegenwart - können Sie sich vorstellen, sich noch einmal zu verlieben?

Ich kann es nicht sagen, aber es wäre sicher gut. Annas Tod war auch ein emotionaler Zusammenbruch, danach habe ich
angefangen, mich sehr vorsichtig emotional wieder aufzubauen. Das gelingt über die Kinder. Man merkt, wie spontan andere
Menschen mit Gefühlen umgehen und daß man das nicht kann. Das ist ein Brachland, wie nach einem Atombombenabwurf.
Daran, daß da wieder was blüht, arbeitet man. Anna liegt tief in meinem Herzen. Andererseits will sie sicher auch, daß ich
wieder glücklich werde.

Sie sprechen im Präsens.

Sie lebt, sie wird immer leben in einer gewissen Form, weil sie in den Kindern vorhanden ist. Sie ist sehr präsent. Wir waren
20 Jahre zusammen.

Wenn Sie selber mal sterben ...

...dann soll einer an meinem Bett sitzen, oder zwei, oder alle, die sitzen da, trinken Tee und erzählen Witze oder ziehen
zumindest über mich her. Das ist wunderbar.