HERBERT GRÖNEMEYER
Interview von ERNST HOFACKER (Musikexpreß, 2000)
BLEIBT ALLES HERB

Eine neue DVD, seine schwierige private Situation und die Lage der Nation -
Herbert Grönemeyer über den Stand der Dinge


"Stand der Dinge" erscheint ausschließlich im DVD- Format. Warum?

Der Ansatz dieses Projektes bestand darin herauszufinden, was man auf einen solchen Silberling draufpacken kann. Als je-
mand, der mit Vinyl aufgewachsen ist, war ich immer schon der Meinung, daß die CD diese Sinnlichkeit letztendlich nicht so
transportieren kann wie früher die Vinyl- Platte. Ich dachte, daß es möglich sein muß, diesen digitalen Datenträger so voll zu
packen, daß er dem Käufer mehr bietet, als es bisher der Fall war. Ich denke, man muß den Leuten für den relativ hohen
Preis der CD auch einen vernünftigen Gegenwert liefern. Die Idee, eine beidseitig bespielte CD zu produzieren, fand ich sehr
gut.

"Stand der Dinge" bietet sozusagen die komplette Gröni-Dröhnung inklusive Gitarrenakkorden, Karaoke- Versionen, Back-
stage-Interviews und anderen Spielereien. Warum diese sehr persönlich aufbereitete Präsentation?


Wir wollten das Ganze auch persönlich aufbereiten. Die CD ist ja ein sehr abstraktes Medium, das man sich nur anhören
kann. Hier besteht zusätzlich die Möglichkeit, etwas zu sehen, die DVD auch im Computer zu nutzen. Zwar haben noch
nicht so viele Leute einen Player, aber ich denke, auf Dauer wird sich das ändern. ich wollte es jedenfalls persönlicher haben
und einen intimeren Eindruck geben, damit die Leute auch sehen können, was für ein Typ ich eigentlich bin. Mir hängt ja
schon lange dieses Image an, ein griesgrämiger Knöttelbär zu sein.

Du erwähntest eben, daß du ein alter Vinylmann bist. Besitzt du einen DVD-Player oder bist du in Sachen Technik eher
konservativ?


Ich habe einen DVD-Player. Da ich ja selbst Keyboarder bin, arbeite ich im Studio mit Computern schon seit 1986. Ich hab
natürlich auch zu Hause einen Computer stehen. Grundsätzlich sind Computer für mich so etwas wie ein neues Instrument.
Außerdem hat mich elektronische Musik schon immer interessiert, ich habe da keine Berührungsängste. Neulich habe ich
von einem neuen System erfahren, das bei Sony und Philips entwickelt wird: Eine CD, die bis 100 Kilohertz reicht, im Unter-
schied zur herkömmlichen CD mit 20 kHz und dem Vinyl mit 5o kHz. Ich bin bis heute überzeugt, daß Vinyl dem menschli-
chen Ohr näherkommt als die CD.

Was hältst du von Neil Young, der ja seit Jahren wettert, daß die CD ein Betrug am Hörer sei? Obwohl Otto Normalverbrau-
cher den Unterschied zwischen CD und Vinyl ja kaum hört
.

Das ist ja nicht das Problem von Otto Normalverbraucher, sondern das ist das Problem von uns Musikern. Ich sehe das ähn-
lich wie Neil Young. Schließlich bin ich ja mit Vinyl-Tonträgern großgeworden. Habe noch selber meine ersten LPs geschnit-
ten, da gesessen mit der Lupe und gesagt: Noch tiefer reinschneiden, da gibt's noch mehr Bässe, so kann man noch mehr
rausholen. Ich glaube, daß durch die Datenreduktion der CD letztlich nicht komplett das rüberkommt, was ich im Studio ge-
macht habe. Dadurch hat die CD für meine Begriffe immer noch etwas Kühles.

Zur Musik auf "Stand der Dinge": Wie lautet nun deine persönliche Bilanz - hat das Experiment Grönemeyer plus Orchester
geklappt?


Die Bilanz lautet: Der Vorgang ist geglückt. Ich hatte ja Angst davor, daß es zu pathetisch, zu kitschig wird und daß das Pu-
blikum all das zu andächtig betrachtet. Außerdem hatte ich Angst, daß sie alle sitzenbleiben, schließlich habe ich - mit
Ausnahme des Unplugged-Konzertes - noch nie in einer bestuhlten Halle gespielt. Ich wollte auch, daß das Orchester nur
eine Art Keyboard-Funktion übernimmt, nicht dem Abend eine ganz andere Patina verleiht. Das Konzert und die Musik soll-
ten ja ihre Vitalität behalten. Und es durfte nicht so schrecklich ernsthaft werden, nicht wagnerianische, "deutsche" Dimen-
sionen annehmen. Das ist geglückt. Als wir rausgingen, sind die Leute gleich aufgesprungen und haben mitgemacht. Außer-
dem hat auch das Orchester klasse mitgespielt, die muß man schließlich auch überzeugen. Da sitzen immerhin 64 Männer
und Frauen, die zunächst bei den ersten Proben eher ein wenig skeptisch waren.

Gibt es auf "Stand der Dinge" auch Songs, die dir in ihrer Umsetzung mit dem Orchester nicht so gut gefallen?

Natürlich gibt es Songs, die durch den Streichereinsatz sozusagen an den Rand geraten. "Bochum" zum Beispiel, wo sie
dieses Arpeggio übernehmen, das ich normalerweise am Klavier spiele, und später diesen Bläsersatz das ist schon hart auf
der Kippe. Oder "Alkohol", ein Rockstück, wo sie in voller Besetzung reintuten. Bei diesen sehr alten Stücken ist das schon
ein wenig problematisch. Aber bei neueren Sachen wie etwa "Bleibt alles anders" klappt das viel besser, da passen die Ar-
rangements besser. Auch bei "Fanatisch", "Sie" oder "Schmetterlinge im Eis", wo ich das Orchester sehr vermissen werde,
weil es eine Qualität hinzufügt, die wir als Band gar nicht so voluminös herstellen können.

"Stand der Dinge" ist wie gesagt Grönemeyer zum Anfassen. Was ist das für ein Gefühl, sich selbst in dieser grandiosen
Weise inszeniert zusehen?


Das ist schwierig. Man sieht sich selber nicht so gern...

Hast du dich nach all den Jahren nicht inzwischen an den Typen da auf der Leinwand gewöhnt?

Nee, immer noch nicht. Als ich das Konzert zwei Wochen lang gemischt habe, war das nicht leicht. Man sieht alles, jede
Bewegung, jedes Gesicht, jede Einstellung. Die Kamera lügt nicht. Man kann genau sehen, ob ich schauspielere oder nicht,
das ist schwer anzuschauen. Die zwei Wochen waren in dieser Beziehung eine echte Tortur. Man wird sich über so vieles
bewußt, über das Alter, den ganzen Bombast einer so Show. Hinzu kommt, daß manche Stücke, etwa vom Album "Bleibt
alles anders", inzwischen eine ganz andere persönliche Wertigkeit für mich bekommen haben, was ich damals, als ich sie
schrieb, natürlich nicht wußte. Und das wird durch den Orchestereinsatz noch multipliziert. Sich all dies so genau anzuse-
hen, das ist schon ziemlich grenzwertig. Etwa wenn ich ein Stück wie "Schmetterlinge im Eis" über ein, zwei Tage gemischt
habe, da wirds wirklich emotional eng. Na ja, und dieses sich immerzu selber angucken müssen...

Macht keinen Spaß?

Nee.

"Schmetterlinge im Eis" ist ja in seiner Emotional einer der zentralen Songs der DVD. Hast du nicht manchmal Angst, auf
der Bühne Lieder zu singen, die sich - auch wenn sie nicht immer autobiografisch sind - mit deiner verstorbenen Frau aus-
einandersetzen und derartig starke Emotionen auslösen?


Sicherlich. Ich denke, man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Das ist nun mal eine grausame und traumatische Erfahrung,
mit der ich mich auseinandersetzen muß. Das Leben hat eine völlig andere Richtung bekommen. Und das ist natürlich dem
Publikum genauso bewußt wie mir selbst, wenn ich auf der Bühne bin. Natürlich sind nicht alle diese Songs biografisch, sie
sind eher wie Kinofilme angelegt. Aber Anna war ein ganz wichtiger Bestandteil, sie war die wichtigste Person in meinem Le-
ben, wie meine Kinder. Und ich wollte ihr mit dem, was ich schreibe, ja auch gefallen. Daß sie nicht mehr da ist, das kommt
ja in den Liedern irgendwie rüber. Dieses Konzert war auch so etwas wie eine Zäsur für mich, und das bekommt man sehr
plakativ zu sehen. Die Frage ist eben: Wie kann man weitermachen, wie sieht die Zukunft aus?

Du hast ja relativ schnell wieder Konzerte gegeben.

Ja, das hat auch mit meinen Kindern zu tun, die das wollten, für die das sehr wichtig ist. Sie bekommen mich mit, wenn ich
traurig bin. Aber sie sollen eben auch sehen, daß das Leben weitergeht. Außerdem hätte Anna das sicher auch nicht ge-
wollt, daß man so einbricht. Es geht eben darum, wie man so etwas in sein Leben integrieren kann. Auch unser Haus in
Berlin, in dem wir gelebt haben, bevor wir nach London gegangen sind. Da sind so viele Dinge, die von ihr sind. Eben weil wir
so eng zusammen waren, löst das natürlich traurige Gefühle aus, aber wiederum auch eine sehr große Nähe.

Sind deine Kinder immer bei deinen Konzerten dabei?

Nicht immer, aber im letzten Jahr bei der Tournee, weil das im Sommer war. Und jetzt hier in Berlin bei dem Konzert und
eben in Hannover. Das ist auch sehr wichtig für sie. Meine Tochter hat schon sehr früh gesagt: Du hörst jetzt nicht auf zu
singen. Das war einer ihrer zentralen Sätze.

Man sieht, daß du auf der Bühne sehr viel Spaß hast.

Ja. Die Bühne ist nun mal ein Platz, auf dem ich mich sehr sicher fühle. Anna war ein sehr lustiger Mensch, sie hat sehr viel
gelacht. Das war etwas, wo wir uns immer getroffen haben. Hinzu kommt, daß ich Musik natürlich mag und ich mich gerade
auf der Bühne regelrecht zuhause fühle. Die Musik hat mir in meinem Leben immer geholfen, schon in der Pubertät, wenn
ich meine Einbrüche hatte. Ich versuche, Musik jetzt eben auch dazu zu benutzen, wieder irgendwie in irgendeine Balance
zu kommen. Wie die dann aussieht, weiß ich jetzt auch noch nicht, das wäre wohl auch zu früh.

Vielleicht ist das auch gar nicht so wichtig.

Eben. Das ist nämlich die andere Frage: Muß das auch sein? Aber trotzdem möchte ich mir die Musik auch erhalten. Es
gibt ja auch noch andere Herangehensweisen, etwa bei den Mexikanern, die jeden Todestag feiern und ein anderes Verhält-
nis dazu haben. Trauer beinhaltet ja nicht, daß man nicht mehr lachen kann. Trauer ist nun mal ein zentrales Thema zwi-
schen Leben und Tod, auch wenn man das weiß Gott nicht gerne erlebt. Das versuche ich den Leuten auf der Bühne zu ver-
mitteln, ohne ihnen dabei den Spaß am Leben zu nehmen.

Du hast eine sehr enge Beziehung zum Publikum, die Leute scheinen dich geradezu zu lieben. Ist dir das heute noch wich-
tiger als früher?


Deswegen steh ich ja auf der Bühne. Ich möchte einfach einen schönen Abend mit den Leuten verbringen. Gerade auch in
dieser schweren Phase hat es mir sehr geholfen, wie die Leute Anteil genommen haben, was sie mir zum Teil für unglaub-
liche Briefe geschrieben haben. Darüber bin ich sehr glücklich. Das hat mir aber auch gezeigt, wie sehr die Leute an meinem
Leben teilnehmen.

Die Medien - darunter einige, von denen man das nicht erwarten konnte - sind nach Annas Tod mit deiner Situation über-
raschend respektvoll umgegangen
.

Das hat mich auch sehr überrascht. Ich hätte nicht gedacht, daß die da so respektvoll herangehen. Vielleicht hat das einfach
damit zu tun, daß sie mich ernstnehmen. Das ist auch eine Form von Gegenseitigkeit. Ich versuche auch, mit den Medien
respektvoll umzugehen. Mich hat das sehr gefreut. Da war eine pietätvolle Distanz, die ich auch Anna gegenüber sehr würdig
fand. Das fand ich verblüffend und sehr gut.

Zu deiner künstlerischen Situation: Den Spaß an der Musik, zumindest live, hast du offenbar wiedergefunden. Wie steht es
um deinen künstlerischen Hunger?


Der ist sehr zäh, nach wie vor wie gelähmt; wie die Tagesform, die eigene Emotion, extrem schwankend. Irgendwann werde
ich bestimmt in der Lage sein, wieder Musik zu machen. Da hilft sicherlich, wenn man solche Konzerte macht, weil man
dann merkt, daß noch eine Lust vorhanden ist. Aber die Kreativität ist immer noch gelähmt. Das ist zäh, eben auch, weil das
ein sehr emotionaler Vorgang ist. Manchmal kommt man voran, manchmal hat man auch so eine Art emotionalen Kater. Da
fühlt man sich fast schuldig, wenn man mal fünf Stunden Spaß gehabt hat. Meine Tochter sagt immer: Schreib mal was Lus-
tiges. Aber wenn ich schreibe, ist das im Moment ruhig, es ist ein eher zaghafter Zugang. Früher war das viel ursprünglicher.
In London habe ich mir ein kleines Studio gebaut, wo ich versuche, wieder anzufangen. Aber Konzerte geben, mich um mein
Label kümmern oder diese "Pop 2000"-Sache, also administratives Arbeiten, das fällt mir viel leichter.

Als deutscher Künstler lebst du jetzt seit zweieinhalb Jahren in London. Fehlt dir der deutsche Alltag?

Mir fehlt die deutsche Sprache. Das ist das größte Defizit, daß ich in London habe. Natürlich auch wegen Anna, wir habe
praktisch ununterbrochen geredet, wir waren Weltmeister im Unterhalten. Von morgens bis nachts. Das Reden in der deut-
schen Sprache, das fehlt mir massiv. Inzwischen telefoniere ich wie ein Verrückter. Ich werde natürlich auch weiter in
Deutsch schreiben. Aber das Sprechen, das Quatschen, das fehlt massiv. Trotzdem war es die richtige Entscheidung, nach
England zu gehen. Es hat mir sehr geholfen, daß ich hier relativ unbehelligt leben kann. Aber ich spiele schon auch mit dem
Gedanken, wieder nach Deutschland zurückzukehren, wahrscheinlich wenn dieses Schuljahr vorbei ist.

In deiner Arbeit hast du dich immer sehr engagiert mit deutschen Befindlichkeiten beschäftigt. Fehlen dir in England die täg-
lichen Nachrichten, etwa von einem Politiker wie CDU-Fraktionschef Friedrich Merz, der anmahnt, daß sich Ausländer hier-
zulande an einer "deutschen Leitkultur" orientieren sollen?


Mein Gott, der Mann ist ja völlig überfordert. In der Situation in der sich dieses Land heute kulturell befindet, einen solchen
Satz zu sagen, das ist ja schon fast Kamikaze. Na ja, ich lese nach wie vor jeden Tag eine deutsche Zeitung. Und deut-
sches Fernsehen bekomme ich auch. Aber die Atmosphäre krieg ich natürlich nicht mehr so direkt mit. Dadurch ist eine
etwas größere Distanz entstanden. Das kann man als Nachteil, aber auch als Vorteil sehen. Einiges relativiert sich dadurch
auch. Zum Beispiel wundert man sich, wenn man im Ausland lebt, über diese gewisse Schwermütigkeit der Deutschen. Das
allgemeine soziale Klima und die sozialen Bedingungen, unter denen die Deutschen leben, sind ja im Unterschied zu Eng-
land fast schlaraffenland- mäßig, krasser könnten die Unterschiede gar nicht sein. London ist die teuerste Stadt der Welt,
das Gesundheitssystem in England ist marode, Mieten sind schlicht nicht zu bezahlen. Man sieht die Dinge in Deutschland
mitunter zu verbissen, und da nehme ich mich selbst auch gar nicht aus. Wenn man sich mal in anderen Ländern umsieht,
merkt man, daß einiges hier ruhig aus einer etwas entspannteren Haltung heraus beurteilt werden könnte.

Wie schätzt du überhaupt die politische Lage in Deutschland ein?

Ich denke, die zentralen Themen in Deutschland sind die Wiedervereinigung und der Rechtsradikalismus. In diesem Zusam-
menhang haben für mich auch die Grünen versagt, denn Dinge wie Ökosteuer, Benzinpreiserhöhung etc. verblassen dage-
gen. Die wichtigste Frage scheint mir: Wie schafft es dieses Land, sich kulturell zu einigen, ein kulturelles Selbstbewußtsein
zu entwickeln und dann auch Menschen aus anderen Kulturen entspannter zu begegnen. Das ist das zentrale Thema. Wir
haben derzeit einen internen Kulturkampf, den wir auf Ausländer projizieren. Ost und Westdeutschland sind zwei ganz ver-
schiedene Kulturen. Und man darf nicht vergessen: Das ist eine ganz junge Demokratie hier im wiedervereinigten Deutsch-
land, die erst zehn Jahre alt ist. Und wenn ich dann so einen Satz von Merz höre, kann ich nur sagen, der ist als Demokrat
durchgefallen. Das ist ein Fischen nach Rechtsaußen, nach dem Motto, wir schaffen den Rechtsradikalismus weg, indem
wir uns nach rechts öffnen und dort die Leute absorbieren. Das hat Kohl auch schon so gemacht. Das ist das Fatalste, was
man tun kann. Man muß doch vielmehr dafür sorgen, daß man aufgeklärter wird, daß man entspannter wird, daß man demo-
kratischer wird. Und mit solchen Sätzen macht man wahnsinnig viel wieder kaputt.

Manche von den Herren scheinen ohnehin nicht so viel zu denken, bevor sie den Mund aufmachen.

Ich denke, diese Generation von Politikern, und Merz ist ja einer von den jüngeren, ist eine Gilde von Durchgangs-Politikern.
Die leben noch in der Nach- Kohl-Ära, versuchen ihn zu kopieren. Die haben dieses neue Deutschland noch gar nicht recht
begriffen. Genauso wie es eine neue deutsche Musikszene schon gibt, wird vielleicht in zehn Jahren eine Politikergeneration
herangewachsen sein, die der Entwicklung gerecht werden kann. Aber Leute wie Merz und auch unsere Regierung werden
irgendwann als Vertreter einer Übergangsphase gelten, die es allerdings auch geben muß. Solche Durchhänger sind in einer
Demokratie wohl unvermeidlich. Ich appelliere auch an die Grünen, daß sie sich jetzt mal um die wirklich wichtigen Themen
kümmern, ansonsten verlieren sie ihre Identität, dann haben sie in zwei, drei Jahren gar nichts mehr zu melden. Die Frage,
wie man die Aggressivität aus dieser Auseinandersetzung entfernt, muß auch die sogenannten Linken interessieren. Wie
kriegt man diese beiden Kulturen aufeinander zu bewegt? Das schafft man nicht mit Geld oder indem man die NPD verbietet.
Das schafft man nur indem man Systeme, Organisationen und Initiativen entwickelt, die die beiden Teile des Landes auf-
einander zu bewegen.

Und die kulturelle Landschaft verödet zusehends, Stichwort "Big Brother". Ist das in England ähnlich?

So etwas wie Big Brother gibt es in England auch. Ich glaube, Deutschland hat ganz einfach zu viele Fernsehkanäle. Wenn
ich mich nicht täusche, dann gibt es auf der ganzen Welt kein Land, das in Relation zur Bevölkerung so viele Fernsehsender
hat. Wenn man alle diese Sender mit Personen bestücken will, die auch etwas zu sagen haben, dann scheitert man
zwangsläufig. Außerdem fällt mir auf, daß der Ton, der Sound des Fernsehens hier in Deutschland viel lauter, hysterischer
und schärfer ist. Hinzu kommt diese Massierung von Talkshows. Ich hab nichts gegen Big Brother und auch nichts gegen
Talkshows, aber wenn das statt zwei oder drei gleich vierzehn sind, dann ist es kein Wunder, wenn man am Ende zwei
vernünftige Moderatoren und zwölf Volldeppen hat. Die Inflatonierung des Ganzen macht das Drama aus. Nicht daß wir uns
mißverstehen, ich finde diesen Voyeurismus von Big Brother grauenvoll, aber in einer demokratischen Gesellschaft kann ich
so etwas noch akzeptieren. Es ist halt einfach viel zu viel, um das auch mit vernünftigen Inhalten zu füllen. Ich glaube, daß
da auch etwas mit der Mediengesetzgebung nicht stimmt. Irgendwann sind wir auf dem Niveau, wo man im Quiz gefragt wird,
ob ein weißes Pferd mit schwarzen Streifen nun ein Walfisch, ein Känguruh oder sonstwas ist. Das ist dann entweder Real-
satire oder wir sind auf einem Level, wo man nur noch rülpsen muß und dafür Geld kriegt.

Mit dem "Pop 2000"-Projekt hast du dich als Archivar der deutschen Popgeschichte betätigt und bist dabei mit einer Menge
junger Musiker zusammengekommen. Was hältst du von der jungen Szene?


Die Musikszene in Deutschland war noch nie so vielseitig und vielschichtig, die jungen Musiker waren noch nie so selbst-
bewußt. Das find ich Klasse. Die ganze HipHop-Szene, die Elektroniker, die Techno-Szene, sie haben ein ganz neues
Selbstverständnis entwickelt. Alles ist viel verzweigter, es gibt nicht mehr solche Berührungsängste, man macht mehr
selber, arbeitet mit kleinen Labels. Und auch rückblickend ist mir aufgefallen, daß die deutsche Unterhaltungsmusik sehr
wohl, trotz des Bruchs durch die Nazizeit, eine eigene Wertigkeit hat. Dieses Land hat eine klare musikalische Identität.
Speziell wenn man in England lebt, wundert man sich, auf wieviel Interesse dort etwa Krautrock stößt. Es gibt sogar einen
Club in London, der mittwochs nur Krautrock spielt. Und bei neuen Veröffentlichungen, etwa von Placebo oder Radiohead,
merkt man, daß sich viele Musiker auf die deutsche Rock- und Elektronikmusik der 70er Jahre berufen. Genauso wars mit
der Technoentwicklung.

Es scheint, daß auch hierzulande die Akzeptanz einheimischer Musik wächst.

Ich glaube, es wächst auch eine Sehnsucht nach eigener Kultur. Der Osten hatte eine generell viel intensivere Beziehung zu
Kultur und Literatur, das vergessen wir im Westen oft. Die Menschen im Osten haben viel eher begriffen, wie wichtig eine
eigene Kultur für die Identität und das Überleben ist. So gesehen ist das auch eine große Chance der Wiedervereinigung,
daß man begreift, daß dieses Land seine eigene Sprache, seine eigene Kultur, seinen eigenen Spiegel braucht. In der Musik
zeigt sich das jetzt auch in einer sehr intelligenten, cleveren und klugen Musikszene...

...die überdies einen oft anarchistischen Ansatz pflegt und so für die große Vermarktung kaum greifbar ist.

Genau, die Industrie scheitert immer wieder daran, weil sie viel stromlinienförmiger denkt. Das läuft aber nicht mehr, die
Bands wollen mit den großen Firmen kaum noch reden. Die Großen suchen deshalb kleine Verlage oder Labels. Ich sehe
das gerade an meinem Neffen. Der hat eine Band namens Creutzfeld & Jakob, eine HipHop-Band aus dem Ruhrgebiet, die
gerade auf Platz 35 eingechartet ist. Die Szene dort ist untereinander vernetzt, die haben ihre eigenen Verlage, holen sich
vielleicht das Geld von den Großen, bleiben aber grundsätzlich unter sich. Genauso machen es auch die Hamburger oder die
Stuttgarter. Und da freu ich mich natürlich, daß ich als Künstler noch dabei bin, noch mitmachen kann. Jetzt macht es viel
mehr Spaß Musik zu machen als in den 80ern.

Auf deinem Grönland-Label erscheint demnächst der Katalog von "Neu" erstmalig auf CD. Bisher war es niemandem gelun-
gen, die Herren Dinger und Rother an einen Tisch zu bringen, um über die Lizenzen zu verhandeln. Wie hast du das ge-
schafft?


Auf der "Pop 2000"- Box wollte ich "Hero" und "Hallogallo" veröffentlichen und brauchte die Rechte dafür. Immer wieder hieß
es, das gibts nicht auf CD, und die wollen das auch nicht und reden sowieso nicht mehr miteinander. Also habe ich die bei-
den zu Hause besucht, um herauszufinden, wo eigentlich das Problem liegt. Sie sagten mir, daß sie seit Jahren versuchen,
sich auf eine Person oder eine Firma zu einigen, die die Rechte bekommen soll, daß sie aber niemanden finden, mit dem sie
wirklich beide einverstanden sind. Ich sagte ihnen, daß ich das gerne veröffentlichen möchte, weil ich finde, daß das tolle
und wichtige Platten sind. Und ich habe ihnen versprochen, daß ich daran so arbeiten werde, daß sie als Urheber die künst-
lerische Kontrolle behalten. Die beiden sind sehr verschieden, wie Plus und Minus, und es ist auch nicht immer einfach.
Aber ich glaube, da ich selbst eine Diva bin (lacht) und grundsätzlich künstlerisches Denken nachvollziehen kann, haben sie
Vertrauen zu mir gefaßt. Außerdem ist "Neu" ja ein massives Stück deutscher Musikgeschichte. David Bowie sagt heute
noch, "Neu" sei seine Lieblingsband. Und Brian Eno meint: "In den 70er Jahren gab es nur den Beat vor Fela Kuti, James
Brown und Klaus Dinger."

Juckt es dich als gelernter Schauspieler nicht ab und zu, mal wieder einen Film zu machen?

Doch, ja. Ich würde sehr gerne in den nächsten, sagen wir zwei Jahren wieder einen guten Film drehen. Das Problem ist
aber ein terminliches, allein schon wegen meiner Kinder. Ich kann ja nicht einfach so mal zwei Monate weggehen. Aber das
Verständnis für Kino ist hier in Deutschland in den letzter Jahren sehr gewachsen, die Entwicklung in diesem Sektor finde
ich sehr ermutigend. Vielleicht ist die Musikszene da schon ein bißchen weiter, aber das Kino entwickelt sich sehr positiv,
es bekommt langsam eine eigene Farbe und beginnt, eigene Geschichten zu erzählen. Dieses große Land wird merken, daß
Kultur wichtiger ist als es sie bisher genommen hat. Und das ist, glaube ich, auch ein Einfluß des Ostens.