HERBERT GRÖNEMEYER
Interview von BIRGIT AHLERT (Volksstimme, 2000)
"Gesicht zeigen gegen Gewalt" war das Anliegen von mehr als 20 Künstlern beim gleichnamigen MTV-Bene-
fizkonzert in Leipzig. Unter ihnen Rockstar Herbert Grönemeyer, der trotz Grippeerkrankung aus England
anreiste.


Sie sind trotz Krankheit zum Konzert gekommen. Es hätte bestimmt jeder Verständnis gehabt, wenn Sie nicht aufgetreten
wären
.

Das stand nie zur Debatte. Dazu ist der Anlaß einfach zu wichtig.

Bei Ihren guten Beziehungen zu MTV und Ihrem politischen Engagement stellt sich die Frage: Hatten Sie "die Finger im
Spiel" bei der Idee zum Konzert?


Nein. Die Idee kam von MTV, aber wir haben ziemlich früh darüber geredet. Ich wurde von MTV gefragt, was ich von so einem
Konzert halte und ob ich mitmachen würde. Die Bands, die hier auftreten - wie "Freundeskreis", "Massive Töne" oder "Sport-
freunde Stiller" - das sind diejenigen, die zur Zeit die präziseste Sprache sprechen, die die Jugendlichen mit ihrer Sprache
ansprechen. Hier gibt es einen Abend, der mit Musik besticht und durch das Motto, und das finde ich toll. Profilierungs-
abende, wie es sie in der Vergangenheit bereits mehrfach gegeben hat, würde ich nicht wieder machen, das ist mir zu
peinlich.

Ausschlaggebend für das Konzert waren Berichte über Gewalttaten, die rechtsradikalen Hintergrund haben. Gewalt vor allem
gegenüber Ausländern
...

Ich glaube, das Fatale ist: Es hat eigentlich gar nichts mit den Ausländern zu tun. Es hat mit unserer Situation zu tun. Es
kümmert sich niemand um die Wiedervereinigung. Das ist für mich das Erschütternde. Es zeigt kein Politiker ein wahres
Interesse, mit Programm und Ideen die beiden Seiten Deutschlands wieder zusammenzubringen. Und daraus folgt eben, daß
man nach irgendwelchen Auswegen sucht. Dieses Land einigt sich auf dem niedrigsten Nenner - da kennen wir uns aus.
Das ist ein ganz muffiger Nenner. Plötzlich sollen die Ausländer die Schuldigen sein. Die sind an nichts schuld, die haben
mit dem ganzen Thema nichts zu tun, an diesem Spannungsfeld zwischen Ost- und Westdeutschen.

Die Quelle des Übels also das schlechte Ost-West-Verhältnis?

Ja. Wir leben seit zehn Jahren zusammen, und es gibt keine Berührungspunkte öffentlicher Art, wo sich beide Kulturen aus-
tauschen. Wo sie neugierig werden aufeinander, von sich erzählen. Zum Beispiel: Wenn ich jetzt lese, was Angelika Merkel
von früher erzählt, über ihre Zeit im Osten, was sie so verdient hat, was sie für ein Fahrrad hatte und so, finde ich das inter-
essant. Es wäre gut gewesen, wenn solche Personen einmal die Woche im Fernsehen gewesen wären, von Anfang an.
Wenn man das in den Medien verfolgen und somit sehen könnte: unser Hauptinteresse ist es, diese beiden Seiten irgend-
wann in den nächsten Jahren zusammenzubringen. Aber das gibt es nicht.
Es kümmert sich keiner um das Problem Ostdeutschland und Westdeutschland. Darum entlädt sich das an Menschen, die
damit nichts zu tun haben. Wir haben kein Ausländerproblem. Das ist völlig absurd. Es ist inexistent. Es ein künstlich her-
beigeführtes Stammtischthema, das mit unserer Realität zur Zeit nichts zu tun hat. Unser Problem hat Menschen, die ge-
frustet sind, weil sie mit der neuen Kultur nicht klarkommen. Der Westen hat kein Interesse, und der Osten ärgert sich mit
Recht über die Arroganz der Westler, weil sie sich nicht ernst genommen fühlen und nicht respektiert in der eigenen
Geschichte. In diesem Kampf sind wir alle sprachlos, da eiern alle rum...
Das hat der Kölner Philosoph Silbermann schon vor Jahren in einer Sendung von Alfred Biolek gesagt. Auf die Frage, was
passieren wird nach der Wiedervereinigung, meinte er: Da werden sich die Deutschen in ihrem größten Muff treffen, da wirds
doppelt muffig. Und da sind wir jetzt angekommen. Der zentrale Muff ist der Haß auf Ausländer. Und das ist völlig hanebü-
chen. Ich weiß gar nicht, was das soll. Da wird ein Problem konstruiert und von Leuten erzählt, die das Asylrecht unterwan-
dern - wie es der Stoiber gemacht hat und so gar nicht stimmt... 60 Prozent der Asylanträge werden anerkannt. Es ist doch
völlig in Ordnung, daß so ein reiches Land wie Deutschland in der Lage ist, Menschen aufzunehmen, die Zuflucht suchen.
Da sollte man sich doch drüber freuen.

Kann ein Konzert wie heute etwas verändern?

Ich glaube nicht, daß ein Konzert viel verändert. Aber es ist ein kleiner Baustein für ein demokratisches Selbst. Man stützt
sich, hilft sich dabei, Mut zu schöpfen. Weil man das Gefühl hat: Seht an, es sind ein paar Tausend Leute gekommen und
viele Bands, die sich gegen rechts aussprechen - man ist nicht allein. Es ist keine Sache, die man nur dem Publikum er-
zählt, sondern es ist auch für einen Künstler gut und interessant, daß auch andere Künstler immer wieder rausgehen und
sagen: Das ist ein wichtiges Thema. Man weiß aus dem täglichen Geschehen, wie schwierig es ist, den Mund aufzuma-
chen, wenn jemand mit Springerstiefeln anrückt und ne große Schnauze hat. Es ist schwer gegen die eigene Angst vor der
so genannten braunen Horde anzugehen. Gegen diese Angst kann so ein Konzert ein Baustein sein. Und es kann den an-
deren das Gefühl geben: Die bleiben uns nach wie vor auf den Fersen, die treten uns in die Hacken und lassen uns nicht den
Spielraum, den wir gerne hätten.

Wie sehen Sie heute die Chance für ein wirklich geeintes Deutschland? Zehn Jahre nach der Wende scheinen die Mauern in
den Köpfen höher als zuvor, die Gegensätze stärker als damals
...

Wir sind jetzt ehrlicher. Ich betrachte das wie eine Kurve: Die Euphorie war da, der Enthusiasmus. Jetzt sind wir am Punkt
Null. Wir sehen die Dinge, wie sie wirklich sind, machen uns nichts mehr vor. Ich glaube, der Prozeß ist mühselig und lang-
sam. Der bedarf noch 20, 30 oder 50 Jahre. Und das sind für uns ungewohnte Zeitabstände. Als Deutsche sind wir es ge-
wohnt, effizient zu denken. Wir verbieten die NPD, und damit ist das rechte Thema vorbei. Oder: Wir schicken Geld in den
Osten, und damit sind die zufrieden - aus. Und wenn sie nicht zufrieden sind, haben sie ein Problem... Aber das ist nicht das
Thema. Es sind die Kulturen, der Mensch in seinem Denken, in seiner Erinnerung, in seinem Sentiment. Dieses Problem ist
nicht zu lösen über Hauruckaktionen oder Geld. Es ist nur zu lösen über ein sensibles Miteinander umgehen, für ein neugie-
riges, empfindsames Selbstbewußtsein, das dieses Land entwickeln muß.

Wird die Generation unserer Kinder besser damit umgehen können?

Ja. Wenn ich alt bin - vielleicht 80, wenn ich das erlebe - dann kann man sagen: Jetzt wird es sich normalisieren. Alles an-
dere ist Augenwischerei. Es werden immer Punkte kommen, bei denen man sagt, das entwickelt sich, das ist schön. Aber
man muß in einem viel längeren Komplex denken. Dann kriegt man das richtige Tempo. Ich denke, die Bedingungen sind da.
In der Mischung von Osten und Westen sehe ich die Chance, daß dieses Land eine ganz eigene Feinheit und Sensibilität
entwickelt. Das ist interessant und eine Herausforderung. Und für mich ist es vor allem eine kulturelle Frage.

Dementsprechend Thema der Künstler?

Ja, klar. Und die habens schon begriffen, die sind viel weiter. Das sieht man auch hier in Leipzig an der Vielfalt der Bands,
am Selbstverständnis.

Wie die Wende im Osten von den Künstlern herbeigeführt wurde?

Eben. Aber allein das zu begreifen, ist im Westen schwer. Im Osten war das Verhältnis zu Künstlern schon immer inten-
siver. Kultur als Überlebenshilfe - das war viel ausgeprägter.

Sie leben jetzt in England. Ist die Sicht auf Deutschland von dort aus eine andere geworden?

Ja. Man lernt, dieses Land mehr lieb zu haben, man wird deutscher. Ich bin ja eigentlich ein Typ, der immer gleich "Hilfe!"
schreit... Aber wenn man in England lebt, lernt man, entspannter zu sein, sonst kann man da nicht überleben. Ich sehe
Deutschland und seine Chancen entspannter. Man sieht das Land aus der Distanz, kann zur Seite treten, guckt von außen.
Wenn man hier lebt, kann man das nicht.

Das Geld dieses Benefizkonzertes wird für Jugendprojekte und -klubs verwandt. Sie haben sich schon vorher in dieser Rich-
tung engagiert, für ein Jugendheim in Leipzig. Gibt es diese Beziehung noch?


Das Jugendheim gibt es noch, die Funktion hat sich jedoch gewandelt. Wir haben fünf Jahre gebraucht, um die Aggres-
sionen aus den Leuten rauszukriegen. Die sind aber nach wie vor rechts orientiert. Die Gesinnung rauszukriegen, das wird
dann der nächste Schritt. Das ist ein wahnsinnig mühseliger Vorgang, unglaublich langwierig. Aus dieser Erfahrung weiß ich,
wie lange das dauert. Deswegen muß man einfach ständig dran bleiben.

Sie haben von Anfang an Lieder mit politischen Texten geschrieben. Ist es sehr schwer gefallen, für den kurzen Auftritt hier
in Leipzig aus der Vielzahl drei auszuwählen?


Eigentlich nicht. "Männer" spielen wir, weil es zum einen vor allem um Männer geht, zum anderen auch zum warm werden,
zum Einspielen, weil es hier kein Soundcheck möglich ist. "Bleibt alles anders" paßt zum Anliegen des Abends, und "Die
Härte" ist das expliziteste Stück, das ich zu dem Thema geschrieben habe. Aber wichtig ist vor allem, daß man da ist, dabei
ist. Man holt sich auch selbst raus an so einem Abend. Es ist ja nicht so, daß man nur den Leuten was vorspielt. Man
motiviert sich auch selbst.